Blog PD Dr. Kian-Harald Karimi (gespiegelt)

Ein Versuch, mir meine Trauer, Resignation und Wut von der Seele zu schreiben, um nicht daran zu zerbrechen

Donnerstag, 26. Dezember 2019

09-2019 Die vereinten Regionen und Nationen von Europa. Europäische Projektionen (Entwurf eines Essays)



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1. Historische Voraussetzungen


Historisch gesehen war Europa stets ein Kampfplatz widerstreitender Parteien und zugleich Ausgangspunkt weltweiter Eroberungen, welche die Globalisierung des 20. und 21. Jahrhunderts überhaupt erst ermöglichen sollten. Deutschland und Europa teilten sich allerdings über Jahrhunderte einen Status als bloße geographische Erscheinung, nicht als politische Gemeinschaft, die zu einer kollektiven Erzählung fähig gewesen wäre.

Während sich in Deutschland über lange Zeit verschiedene Stämme oder Regionen hervortaten, sind es in Europa alte Nationalstaaten wie Frankreich, England oder Portugal gewesen, die auf alte Geschichten zurückblicken konnten. Aber es spricht für die absolute Diversität historischer Entwicklungen, dass es sich gerade in Osteuropa anders verhält, weil dort große Imperien wie Russland, das Osmanische Reich und die Habsburger Monarchie ihren Sitz hatten.

Entgegen diesen Inkongruenzen haben sich die EU-Eliten darauf geeinigt, in der politischen Organisationsform des Nationalstaats den missliebigen Schatten ihrer eigenen Ziele auszumachen. Die gängige Geschichtsschreibung, die dem Leser in Schulbüchern, Medien oder Standardwerken unterbreitet wird, bricht die europäische Geschichte auf Kriege widriger, aggressiver Nationen herunter, wie sie uns modellhaft im Gegensatz zwischen den sogenannten Erbfeinden Frankreich und Deutschland gleich einem Modell verfehlter Geschichte entgegentritt. Ausgeblendet wird dabei nicht selten, dass dieser Gegensatz schon Jahrhunderte vor dem bürgerlichen Zeitalter bestanden hatte, als Deutschland noch kein politischer Begriff und ähnlich zerstückelt war wie unser heutiger Kontinent. Wahrscheinlich beruhte der bezeichnete Gegensatz sogar auf dem Umstand, dass Frankreich ein starker Territorialstaat war, dessen schwacher Nachbar nicht zuletzt an den Privatkriegen seiner Duodezfürsten zerbrach. Auf andere Weise wurde Polen mit dem Verlust seiner Selbständigkeit von Preußen und dem russischen Zarenreich in die Zange genommen und so eine fatale Tradition begründet, die dann im 20. Jahrhundert auf grausame Weise durch Deutschland und die Sowjetunion fortgesetzt werden sollte.

2. Die Anpassung des Nationalstaats an die Globalisierung


Ein offenes Geheimnis ist die zukünftige Organisationsform Europas, die keine andere sein wird als der bislang dämonisierte Nationalstaat. Nicht selten ist von ‚Nation Europa‘ oder ‚Republik Europa‘ die Rede, was nicht die Überwindung, sondern Erweiterung nationalstaatlicher Strukturen impliziert. Diese aber bedeuten nichts Geringeres als die Anpassung des alten Nationalstaats an die Größenverhältnisse der Globalisierung, wie sie schon George Orwell in seinem diesbezüglich nicht eben häufig zitierten Roman ‚1984‘ als Konflikt zwischen den imperialen Machtblöcken Ozeanien, Eurasien und Ostasien andeutet.

Diese Entwicklung von kleineren Einzelstaaten zu Kolossen stellt sich zwar in einer derartigen Dimension als etwas Neues heraus. Aber wirklich außergewöhnlich ist sie keineswegs, denn bereits die Bildung von Territorialstaaten am Ende des Mittelalters bzw. zu Beginn der Neuzeit impliziert einen ähnlichen Vorgang, der wie Foucault es beschreibt, den Krieg aus dem Landesinneren an die Grenzen des Territoriums verschiebt. Als beispielhaft darf hier wiederum Frankreich gelten, dessen Monarchen sich über die Territorialfürsten stellen und vom XV. bis zum XVIII. Jahrhundert ihre Macht zusehends zentralisieren. Regime können sich ändern, doch der traditionelle Zentralismus der französischen Republik dürfte eine Konsequenz dieser historischen Tendenz sein.

Ganz anders Deutschland, das bis zur Gründung des zweiten deutschen Kaiserreichs als ein unüberschaubares Gebilde von Kleinstaaten der Rivalität Preußens und Österreich-Ungarns unterworfen war. Kriege spielten sich bis 1870 nicht an den deutschen Grenzen ab, sondern auf deutschem Boden selbst. Furchtbarstes Ereignis war in diesem Zusammenhang der Dreißigjährige Krieg. Von ca. 18 Mio Menschen, die seinerzeit im Reich lebten, verloren ein Drittel ihr Leben. Historische Gründe für militärische Konflikte sind demnach nicht die bloße Existenz von Nationalstaaten.

Vielmehr ist anzunehmen, dass die Ungleichzeitigkeit der Verhältnisse, die Verschiedenheit staatlicher Organisationsformen Kriege in Europa erst ermöglichten. Ähnlich waren die historischen Ausgangsbedingungen in Italien, das zum Leidwesen Machiavellis unausgesetzt Spielball größerer Mächte wurde, so etwa zwischen dem französischen König François I. und dem spanischen Carlos I., seines Zeichens auch Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Deutscher Nation.

3. George Orwells ‚1984‘ als literarische Warnung vor großen staatlichen Gebilden

Natürlich bestand das Problem nicht allein in der unterschiedlichen Größe der europäischen Staaten, sondern in der Tendenz großer Territorien, sich kleinere einfach einzuverleiben, eine Tendenz, mit der es die europäische Politik noch immer zu tun hat. Damit kommen wir aber einem Problem näher, das ebenfalls hinreichend Gestalt im Roman ‚1984‘ findet.

Seit dieser Zeit nämlich war der Krieg buchstäblich ein Dauerzustand geworden, wenn es sich auch genaugenommen nicht immer um den gleichen Krieg handelte. Mehrere Monate während seiner Kindheit hatten in London selbst wirre Straßenkämpfe getobt, an einige davon erinnerte er sich noch lebhaft. Aber die geschichtliche Entwicklung genau zu verfolgen und zu sagen, wer jemals wen bekämpfte, wäre vollständig unmöglich gewesen, denn keine schriftliche Aufzeichnung oder mündliche Überlieferung erwähnte je eine andere Konstellation als die gegenwärtig gültige. So war zum Beispiel in diesem Augenblick, um das Jahr 1984 (man schrieb tatsächlich das Jahr 1984), Ozeanien mit Eurasien im Kriegszustand und mit Ostasien verbündet. In keiner öffentlichen oder privaten Verlautbarung wurde je zugegeben, daß die drei Mächte jemals anders gruppiert gewesen seien. In Wirklichkeit war es, wie Winston sehr wohl wußte, erst vier Jahre her, daß Ozeanien Ostasien bekriegt und mit Eurasien ein Bündnis gehabt hatte. Aber das war nur ein kleiner Schimmer historischen Wissens, den er auch nur besaß, weil seine Erinnerung noch nicht hinreichend kontrollierbar war. Offiziell hatte nie eine Veränderung in der Kombination der Partner stattgefunden. Ozeanien führte mit Eurasien Krieg: also hatte Ozeanien immer mit Eurasien Krieg geführt. Der augenblickliche Feind stellte immer das Böse an sich dar, und daraus folgte, daß jede vergangene oder zukünftige Verbindung mit ihm undenkbar war.

Die Auflösung kleinerer Staaten in große Imperien ist an sich noch keine Friedenslösung, selbst wenn sie sich mit weniger autokratischen Mitteln vollzieht als unter der Diktatur des ‚Großen Bruders‘. Die Europäische Union versteht sich selbst als Friedensprojekt, aber zugleich auch als notwendige Konsequenz einer Globalisierung, in der sich eine multipolare Welt abzeichnet. Deren Akteure sind Staaten wie Indien, China, Russland, Brasilien und die USA, die selbst von so außerordentlichen Dimension sind, dass sie sich nicht einem wie immer gearteten Verbund anschließen können. So ist es bezeichnend, dass sich der Verband südostasiatischer Nationen ASEAN gegen die aufkommende Hegemonialmacht VR China gegründet hat. Und ähnlich verhält es sich in dieser Beziehung mit der Europäischen Union, deren osteuropäische Mitgliedsstaaten vor allem Schutz vor der hegemonialen Großmacht Russland suchen.

4. Große Schwellenländer als potenzielle Gefahren für kleinere Staaten

Desto unmäßiger sich staatliche Gebilde in Raum, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht ausdehnen, desto größer scheinen die Fliehkräfte zu werden, die sich ihnen zu entziehen suchen. In den genannten Ländern wird zwangsläufig ein Widerspruch zwischen politischem Zentrum und einer Peripherie entstehen, die sich nicht als Teil einer Gesamtstruktur versteht, sondern regionale, ethnische und soziale Besonderheiten ihrer jeweiligen Region geltend machen wird. Gerade die Vereinigten Staaten von Amerika machen hier die Probe aufs Exempel, wenn gegen das ‚liberale‘ Establishment in Washington zu Felde gezogen wird.

Aber auch Länder wie China, Indien. Brasilien oder Russland haben ihr jeweiliges ‚Kaschmirproblem‘, ihre regionalen und religiösen Minderheiten, ihre Ureinwohner, die offensichtlich nicht in das Bild der entsprechenden Zentralmacht passen. Bei allen Unterschieden müssten an anderer Stelle einmal die Gemeinsamkeiten untersucht werden, die sich hier auftun. In diesen Ländern werden die demokratischen Institutionen untergraben (USA, Brasilien, Indien) oder die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft mit aller Gewalt verhindert (Russland, VR China). Demokratie erfordert Transparenz und überschaubare Prozesse der Meinungsbildung.

Die schiere Größe und Weite dieser Länder legt es nahe, dass sich ein Machtzentrum bilden muss, das mit Parteien, Behörden, Geheimdiensten und militärischen Komplexen wie ein Staat im Staate wirkt. Zentralisierung bedeutet aber Verlust an Mitsprache der Bürger, ihrer regionalen, sprachlichen und politischen Vielfalt. Heute wiederholen sich Formationsprozesse, die wir sie in kleineren Dimensionen bereits aus der Geschichte der Nationalstaaten kennen.

5. Zurück zu Orwell

Was bereits weltweit nach dem Ende der bipolaren Blockbildung in Politologie und Kulturwissenschaft wieder entdeckt wurde, ist die Politik des Raums, wie ich sie 2002 selbst in einem Beitrag über die Mehrsprachigkeit behandelt habe. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass die neue Präsidentin der Europäischen Union gerade die besondere geopolitische Kompetenz der Kommission (a truly geopolitical commission) hervorhebt. Jenes Europa, das sich anmaßt, den Schlusschor der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens zu seiner Hymne zu machen („Alle Menschen werden Brüder“), will mitspielen im Konzert der Großmächte, ohne sich zu fragen, ob es nicht fragwürdig ist, an einem derart schlechten Musikstück überhaupt mitzuwirken. Indem sich die Machtblöcke bei Orwell so sehr in Rivalität begegnen, ähneln sie sich gerade deshalb auf so erschreckende Weise. Ihre Gemeinsamkeit besteht gerade in ihrer übermäßigen Ausdehnung, die aggressives Verhalten nach außen und gegen die eigenen Bürger bedingt. Im Innern macht sich ein dosierter, wenn nicht sehr kontrollierter Austausch von Informationen in gelenkten Medien bemerkbar. ‚Alternative‘ Fakten, fake news werden verbreitet, die die historische Wirklichkeit in eine von den Institutionen gewünschte Logik bringen, wie wir es auch aus dem Reich des Großen Bruders kennen.

Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit. »Wer die Vergangenheit beherrscht«, lautete die Parteiparole, »beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.« Und doch hatte sich die Vergangenheit, so wandelbar sie von Natur aus sein mochte, nie gewandelt. Das gegenwärtig Wahre blieb wahr bis in alle Ewigkeit.

Erinnern wir uns es uns weiter, dass im Zuge dieser Geschichtsklitterung auch eine Umwertung der Werte betrieben wird. Nach der gängigen Sprachregelung bedeuten Frieden Krieg, Freiheit Sklaverei und Unwissenheit Stärke. Politische Macht aber verkörpert sich in der Gestalt des Großen Bruders, die omnipräsent ist und absolute Wahrheit für sich in Anspruch nimmt. Und an dieser Stelle verlassen wir die Fiktion, um uns erneut der politischen Realität zuzuwenden: der charismatische Führer, der in Wahlkämpfen die Massen fasziniert, aufhetzt und dabei einen gemeinsamen Feind heraufbeschwört. Auf diese Weise wird das Zerrissene wieder zu einem Ganzen zusammengefügt, auch wenn diesem Umstand Minderheiten jeder Art zum Opfer fallen.

Man könnte nun einwenden, dass es sich bei den genannten Staaten in den meisten Fällen um Föderationen handelt (Ausnahme: VR China), deren Republiken über eine große oder weitgehende Autonomie verfügen. Insoweit bestände zwischen dem Ganzen und den Teilen doch ein gewisser Ausgleich, der eine mehr oder minder angemessene Verteilung von Macht und damit auch deren Kontrolle implizierte.

Beim genauen Hinsehen erweist sich doch, dass eine solche Balance in Indien, Brasilien oder gar in Russland nicht besteht, wobei diese Frage innerhalb des EU-Bereichs bisher nicht völlig geklärt ist. Die EU-Institutionen, aber auch populistische Bewegungen in einigen Mitgliedsländern sind hier sehr bemüht, einen schroffen Gegensatz zwischen dem Ganzen und den Teilen entstehen zu lassen. Aus Brüssel hört man allenthalben, dass Nationalstaaten ohnehin die Quelle allen europäischen Unglücks sei (wobei in dem Vertrag von Lissabon der Begriff ‚Nation‘ nicht ein einziges Mal auftaucht), während die äußerste politische Rechte diese in deren Zugehörigkeit zur Union selbst verortet.

6. Das große malentendu mit dem Begriff der Nation 

Dabei tritt historische Ignoranz auf beiden Seiten offen zutage, so dass wir den Begriff an dieser Stelle in aller Kürze klären müssten. Man hat das 19. Jahrhundert vielfach als ‚Zeitalter der Nationalstaaten‘ bezeichnet, dabei aber verkannt, dass die Projektionsebene nicht nur die Nation, sondern auch immer die Menschheit war.

Unter dem Eindruck der Revolutionen, die seit 1750 die die alte Ordnung in Europa und Amerika erschütterten, entwickelte sich in der idealistischen Philosophie die Überzeugung, dass die historische Zeit rasch vorangeht und damit auch die Nationen nur nur ein temporäres temporäres Stadium der Geschichte bildeten. So vertrat etwa Goethe die Ansicht, dass Nationalliteraturen nicht viel besagten, weil die Epoche der Weltliteratur an der Tagesordnung sei. Unter den liberalen Geistern herrschte vielfach die Vorstellung, dass die Nationen eine Art Transitionsrahmen darstellten, In dem die Menschheit allmählich zu sich selber finden kann. Nach der Auffassung Hegels ist die Geschichte von einem unwiderstehlichen Prozess bestimmt, in der die Vernunft zu einer zweiten Natur des Menschen wird, mit der dieser sich von seiner barbarischen Seite emanzipiert und damit zivilisiert. Die Überwindung von Zwängen, wie sie den Menschen aufgrund von Familien-, Standes- und Stammeszugehörigkeit auferlegt sind und seinen Willen bestimmt, liegt bereits in der Logik des kategorischen Imperativs. Denn dieser ruft jedes Individuum dazu auf, unabhängig von seiner Herkunft und Religion, zum universellen Beispiel für andere zu werden.

Die verhängnisvolle Entwicklung, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das an sich linke und progressive Nationalprinzip belastet hat, hat zwar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gerade die Rückkehr zur Hegelschen Geschichtsphilosophie begünstigt, wohl aber das Misstrauen in die geltenden politischen Religionen. Besonders in Deutschland hat der Nazismus nicht nur die politischen Grundlagen der Nation erschüttert, sondern bis in die sinnlichsten Bereiche eine ruinöse Abbrucharbeit geleistet. Im Grunde hat er unter den Einfluss des wissenschaftlich verbrämten Rassismus des Westens (Houston Stuart Chamberlain, Artur de Gobineau) die Nation auf ein vulgäres und barbarisches Stammesprinzip, auf ein bloßes Abstammungsprinzip, degradiert, was sie freilich in keiner Weise ist.

Dieses Missverständnis verkennt nämlich, dass sie im Gegenteil auf einem Plebiszit beruht, wie dies Ernest Renan in seinem berühmten Beitrag zu diesem Thema ausführte. Im Idealfall ist die Nation eine Komposition des Heterogenen, des Diversen und heute so vielzitierten Mannigfaltigkeit. Der Nazismus war nicht nur ein Menschheitsverbrechen, sondern auch ein fürchterlicher Irrtum, ein Schwindel, wie er nicht treffender in Michel Tourniers Roi des aulnes (Erlkönig) anhand perverser Bilder des Ambivalenten illustriert wird.

Nicht zuletzt in Deutschland haben diese historischen Gegebenheiten, vornehmlich in der liberalen, konservativen und linken Mitte neue Projektionen produziert, die sich allmächtig auf den Fluchtpunkt Europa richten. So nimmt die Europäische Union geradezu metaphysische Dimensionen an, die bei uns als Überwindung des Nationalprinzips erachtet werden, wohl wissend, dass sich dessen Geltung bis an die Grenzen Europas ausdehnt und damit in der Tat noch absoluter zu werden verspricht.

Nationen sind, wie ich es in einem jüngeren Beitrag zum Ausgangspunkt nahm, bewegliche Formen des Denkens, wie Schiffe, die am Horizont auftauchen, untergehen oder gar in der Versenkung verschwinden können. Sie stehen und fallen mit einem öffentlichen Diskurs, einer kollektiven Erzählung und Erinnerung, um es nochmals zu wiederholen, der von einer Polis getragen und zur Grundlage einer Gemeinschaft wird. So ist die Nation im Zuge des Kolonialismus zwar zu einem universalen Prinzip geworden. Es existiert aber keine Menschheitsnation, was sicherlich auf dem ersten Blick unsere Sympathien auf sich ziehen würde, bei genauem Hinsehen aber wohl eine fürchterliche Perspektive wäre, wenn wir Hannah Arendt in Macht und Gewalt folgen.

Auch Regionen eignen sich keineswegs in Hinblick auf politische Religionen als neutrale Fluchtpunkte. Wie in den 1990er Jahren Jugoslawien, so droht demnächst Spanien und Großbritannien die Auflösung ihrer nationalen Einheit. Wenn sich Regionen zu einer Nation zusammenschließen können (z. B. Belgien, Deutschland, Italien im 19. Jahrhundert), dann vermögen es diese auch sich zu autonomisieren und abzuspalten, was aus unserer Sicht vielleicht ein beklagenswerter historischer Irrtum wäre.

Doch nicht uns obliegt diese Entscheidung, sondern jenen Menschen, die Teil der betreffenden Polis sind. Wie ich mich entsinne, hat sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gerade die Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen. Die Menschen sind auch, die das Fecht haben, ihre Stimme bezüglich der Europäischen Union zu erheben.

7. Die Perspektive der Vereinten Regionen und Nationen Europas

Damit Europa nicht nur ein Joker in einer krummen Machtpolitik wird, bedarf es dieser Mitsprache aller Menschen. Die Perspektive einer europäischen Einigung ist vom Grundsatz her völlig richtig, aber nur dann, wenn das Prinzip der Subsidiarität tatsächlich umgesetzt wird, d. h. wenn eine Föderation vereinter europäischer Regionen und Nationen entsteht. Aus dieser auszutreten, sollte ebenso wenig als Majestätsbeleidigung gelten, sondern eine Analogie zum freien Assoziations- und Koalitionsprinzip bilden, das es Bürgern erlaubt, Vereinen, Parteien und religiösen Gemeinschaften beizutreten, diese aber auch nach dem Willen der Bürger wieder zu verlassen.

Föderale Strukturen, wie sie bereits in einigen Mitgliedsländern der EU bestehen, könnten ein gutes Beispiel sein, um staatlichen Zentralismus zu vermeiden. Denn ebendiesen kennen wir aus der deutschen Geschichte auch als verhängnisvoll und demokratiefeindlich. Im Ganzen müssen wir Europa wie einen Legobaukasten begreifen, in dem sich Teile zusammensetzen, aber auch wieder vereinzeln können. Nur indem wir die Regionen Europas in ihren geschichtlichen Kontexten anerkennen, werden diese auch in der Lage sein, den jeweiligen Zusammenschluss zu suchen, die den Teilen aufgrund ihrer Tradition, ihrer revolutionären Erfahrungen, aber auch historischen Belastungen angemessen ist.

Friedrich Schillers Wort „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“ trifft heute unter anderen historischen Umständen auf Europa zu. Damit es zu einer politischen Gemeinschaft wird, muss es von unten aus den Städten, Regionen und Nationen wachsen und diesen starke Wurzeln schlagen. Nur wenn die Fliehkräfte der EU in föderative oder konföderative Partizipationsstrukturen umgeleitet werden, wird es auf Dauer möglich sein, sezessionistischen und nationalistischen Kräften Energien zu entziehen. Europa braucht mehrere Optionen, nicht nur die EU.

 
Der Beitrag wird ggfs. noch erweitert.

Mittwoch, 28. August 2019

04-2019: État d’esprit: Betrachtungen eines politischen Menschen zur Situation unserer Zeit


1. Grenzen der Zeit

Es wird immer wieder gesagt, dass wir in einer von Krisen und Kriegen geschüttelten Zeit leben. Häufig ist noch zu hören, dass ausgerechnet jetzt die Weichen für die Zukunft gestellt werden, vielleicht könnte man hinzufügen, dass unsere Gegenwart noch lange in der Zukunft fortwirken wird, wie ein leuchtender Stern, der als Planet längst verglommen ist. Ich habe es aber immer für problematisch gehalten, einer womöglich unabgeschlossenen Epoche eine dominante Signatur zuzuschreiben und diese dann auch noch in einen wohlklingenden Namen zu kleiden. Erst recht gilt dies wohl für eine Zeit, die die unsrige ist. Denn wann endet sie? Ginge sie mit unserem Tod zu Ende, so könnten die Nachgeborenen den Anfang einer neuen Zeit wohl kaum noch ansetzen, weil letztlich mit dem Ableben eines Menschen immer auch eine komplette Welt untergeht.
Doch ohne Frage gibt es Epochenbrüche, die so offensichtlich sind wie jener, der sich mit der Kanonade von Valmy am 20. September 1794 geräuschvoll vom alten Europa verabschiedete. Der Geheime Rat Goethe, der bei der Schlacht zwischen dem revolutionären Frankreich und Preußen als Begleiter seines Herzogs zugegen war, belegte dies mit dem einprägsamen Satz, dass von hier und heute eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehe, und die Augenzeugen könnten sagen, sie seien dabei gewesen. Auch der Sturm auf Winterpalais im Oktober 1917 oder der Fall der Berliner Mauer im November 1989 markierten ähnliche Brüche, und das Leben der meisten Menschen ging weiter. Es war vorher gestorben worden und neue Erdenbürger erblickten das Licht der Welt. Und das Leben anderer sollte nach dem Finale des Kalten Krieges zu seinem Ende kommen, während auch es anderen Menschen gegeben wurde, denen es womöglich schwerfiel, sich Berlin, Deutschland und Europa noch geteilt vorstellen zu können.

2. Zur Bedeutung individueller Lebensgestaltung

2.1 Der Individualismus als Lebensgefühl unserer Zeit

Zu den Signaturen, die unsere Zeit bestimmen, gehört aus meiner Sicht ein individualistisches Lebensgefühl, das keineswegs neuartig ist und deshalb umso mehr als besonderes Kennzeichen gerade unserer Gegenwart umstritten sein dürfte. Doch ein Vergleich mit den späten 1960er und 1970er Jahren macht sogleich klar, dass der Individualismus seinerzeit zumeist anders in der öffentlichen Meinung empfunden wurde als dies heute der Fall ist. Sicherlich fühlten sich konservative Geister schon immer von den Grenzüberschreitungen ihrer Mitmenschen gestört. Der aufkommende Feminismus, die gerade entstehende Schwulenbewegung, vor allem die Widersetzlichkeit und Aufsässigkeit junger Leute, die in Wohngemeinschaften zusammenlebten und sich gar noch revolutionär gebärdeten, wurden vielfach als Provokation empfunden und nicht zuletzt auch einem anarchischen individualistischen Treiben zugeschrieben. Und dennoch galt Individualismus, von linksradikaler Phraseologie oder reaktionärer Gebärde abgesehen, zumeist als etwas Emanzipatorisches und daher auch als gesellschaftliche Notwendigkeit. Die westlichen Gesellschaften begannen sich so rasch zu ändern, weil sich viele Menschen in Familie, Freundeskreisen, aber auch in staatlichen und wirtschaftlichen Zusammenhängen aus einer ihnen spürbar gewordenen Lebensenge befreiten. Die christlichen Kirchen taten sich freilich schwer damit, weil sie im Prinzip einer Gemeinde dachten, der sich der einzelne im Sinne der Hirtenmoral unterzuordnen hatten.
Noch in dieser Zeit begannen sich aber Intellektuelle wie Pier Paolo Pasolini (Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin: Wagenbach, 1981), ob die lange Haare noch ein Zeichen von Emanzipation sei oder nicht doch ein modischer Trend, dem jedermann stehe. Er entdeckte das Universum des bäuerlichen Lebens und damit jene Solidarität, die dem Trotz gegen eine widrige Natur und eine nicht minder feindliche Regierung entsprang. Der Individualismus wurde aus seiner Sicht zu einer modischen Zeiterscheinung, der man sich zu beugen hatte, wollte man nicht als unmodern oder reaktionär gelten. Und gerade heute gewinnt sein Urteil an Aktualität.

2.2 Ein zunehmend toxischer Individualismus

Denn jener Individualismus, mit dem wir auf Schritt und Tritt Bekanntschaft machen müssen, hat mitunter grausame und hedonistischen Züge erhalten, voll von Selbstbezug und masslosem Egoismus. In unerträglichen, ideologisch überfrachteten Diskussionen schleicht sich immer wieder jene sprichwörtliche Unduldsamkeit ein, die ausschliesslich die eigene Sprache versteht, um die der anderen mehr bewusst als unbewusst misszuverstehen. Ob im Strassenverkehr, wo neue elektrische Roller, gerade hier in Berlin-Mitte, Bürgersteige bevölkern und dabei Passanten geflissentlich übersehen, ob am Arbeitsplatz oder in schulischen Einrichtungen, wo Mobbing inzwischen zum Alltag gehört, überall geht es darum, dem anderen sein Gesicht als ein möglichst hasserfülltes und womöglich gewalttätiges zu zeigen, so als könne die eigene Individualität nur dann ihre Wirkung hinterlassen, wenn sie als ausschließlich aggressiver Gestus wahrgenommen wird.
In der Politik sind nicht nur die sogenannten Volksparteien in eine Krise getreten; auch ein System des Ausgleichs und des Kompromisses droht uns abhanden zu kommen und der Unnachgiebigkeit neuer Akteure Platz zu machen. Dieses Land der Mitte war, historisch gesehen, schon immer ein fruchtbarer Boden für diese polemische Saat und könnte es im Namen von Prinzipienreiterei und Unduldsamkeit erneut werden. Und sicher ist diese verhängnisvolle Entwicklung, wie wir sie mit der Präsidentschaft Donald Trumps heraufziehen sahen (vgl. 2018-03), auch jenem unterschiedslosen Geplapper liberaler Eliten und Amtsträger zuzuschreiben, die ihren Diskurs einzig und allein nach den Opportunitäten des Alltags ausrichteten und dabei die vom Niedergang bedrohten Mittelschichten vernachlässigten.

3. Die bürgerlichen Mittelklassen als Träger des Individualismus

3.1 Die Zerstörung und Selbstzerstörung der bürgerlichen Mittelklassen

Es wäre trivial, diese Zeit wiederum in die Nähe der frühen 1930er Jahre zu rücken. Aber in einem Punkt erscheint dies zumindest angemessen. Wie vor den Hitlerjahren handelt es sich heute wiederum um eine bürgerliche Mittelklasse, die mit wachsenden Sorgen in einen wirtschaftlichen Abgrund blickt. Denn gerade sie ist es heute wie damals, die ihre angeblich so ehernen Prinzipien zugunsten kurzfristiger Vorteile in die Gosse wirft, indem sie diese aber fortwährend als blosse Formeln an ihre Kinder und Kindeskinder weitergibt. In seiner Autobiografie Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. (Hamburg: Rowohlt 2006, S. 343-344) beschreibt Joachim Fest diese Zeit so:
Zu viele gesellschaftlichen Mächte hatten an der Zerstörung dieser [bürgerlichen] Welt mitgewirkt, die politische Rechte ebenso wie die Linke, die Kunst, die Literatur, die Jugendbewegung und andere. Hitler hat im Grunde nur weggeräumt, was an Resten noch herumgestanden hatte. Er war ein Revolutionär. Aber indem er sich ein bürgerliches Aussehen zu geben verstand, hat er die hohlen Fassaden des Bürgertums mit Hilfe der Bürger selbst zugrunde gerichtet: Das Verlangen, ihm ein Ende zu machen, war übermächtig. […] Im Innern war diese Schicht lange morsch; insofern bin ich nach den Grundsätzen einer abgelebten Ordnung erzogen worden. Sie hat mir ihre Regeln und ihre Traditionen bis hin zu ihrem Gedichtekanon vermacht. Das hat mich etwas von der Zeit entfernt; zugleich hat diese Ordnung mir ein Stück festen Grundes verschafft, der mir in den folgenden Jahren manchen Halt vermittelte.
Unwiderruflich vorbei ist zwar die Hitlerei, nicht jedoch, was in den 1920er und 1930er Jahren zu ihr führte, aber sicherlich heute eine andere Barbarei hervorbringen mag, die mit der Zeit auch eine weitaus internationale Dimension annehmen wird. Das Problem, mit dem wir damals wie heute konfrontiert sind, besteht im ambivalenten Status der bürgerlichen Mittelklassen. Diese sind seit ihrer Entstehung stets von hybrider Natur, d. h. sie rekrutierten sich bereits im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Bürgers, aus verschiedenen Schichten, aus Adel und Bauerntum, um dann in den Städten zu einer eigenen, aber auf sozialer Ebene immer durchlässigen Kategorie zu werden. Die Comédie HumaineHonoré de Balzacs, aber auch der englische Gesellschaftsroman bieten hinreichende Belege für diese Annahme.

3.2 Das Bürgertum als hybride Klasse

Heute gilt dies auch für Einwanderer aus entfernten Regionen der Welt, denen die deutsche Sprache und Kultur bis dato noch unbekannt sind. Ihren besten Zugang zu unserer Gesellschaft finden sie über die Mittelschichten, wenn sie selbst als Händler, Intellektuelle, Lehrer und Träger freier Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte) die Mitte der Gesellschaft erreichen. Denn bürgerlich zu sein, bedeutet auch, sich im eigenen Selbstverständnis und im sozialen Leben als Individuum zu inszenieren. Zugleich haben die Mittelschichten aber auch jene von Fest beschriebenen Traditionen entwickelt, die zumindest im nördlichen Deutschland aus preussisch-protestantischen Beständen herrühren und zuweilen auch gern im Gleichschritt marschierten.
In diesem Sinn war das Bürgertum, vor allem in seinen freien Berufen, in seinen Akademikern, in seinem Werte- und Gedichtekanon sowie seinen Bildungsinstitutionen auch eine Art Korporation. Diese kollektive Zuschreibung rivalisierte demnach mit einer individualistischen Lebenshaltung, die im Zuge von Moderne und Postmoderne zusehends an Boden gewann. Denn jener Prozess, den Marx bereits auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Revolution erkannt haben will („Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“), nimmt in unserer Zeit weiter Fahrt auf.
Paradoxerweise sind es in den 1960er und 1970er Jahren gerade jene Akteure fūr die weitere Selbstauflösung des Bürgertums in ihrer korporativen Erscheinung zuständig, die selbst bürgerlicher Herkunft sind. Und noch paradoxer will es erscheinen, dass sich dieser Prozess just in jenen linken Gruppen reproduziert, die selbst zumeist aus dem Bürgertum stammen. Den zunächst emanzipatorischen Anliegen, die seinerzeit zahlreiche Studenten zum Protest gegen ein autoritäres und scheinheiliges Bürgertum auf die Strasse brachten, folgte ein merkwürdiger weitaus autoritärerer Karneval. In diesem Sinne ersetzten sie den Bürger- durch den Proletenkult, um sich aus Scham vor der eigenen Herkunft zu einem neuen Kollektiv zu bekennen, einer revolutionären Arbeiterklasse. Stalin, allen voran Mao Zedong galten ihnen als weit weniger autoritär als Adenauer, stiegen diese in ihren Augen doch zu Ikonen gesellschaftlicher und kultureller Befreiung auf. Dass Derartiges geschehen konnte, hatte mit dem moralischen Verfall der Väter- und Großvätergeneration zu tun, die sich weidlich über die Gewalttaten ihrer Söhne und Töchter echauffierten, aber ihre eigenen Gewalttaten verschwiegen und dabei noch grausige Kriege wie jenen in Vietnam zum Schutz der Freien Welt rechtfertigten.

4. Der Normalisierungszwang im Namen der Mittelklassen

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4.1. Emanzipation vs. Anpassung und Uniformität

Und damit schliesst sich der Kreis. Stehen die Mittelklassen einerseits für einen bürgerlichen Individualismus, der gerade vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen Weltmarktgesellschaft im Hedonismus der Warenwelt zur höchsten Entfaltung kommt, so kann der Rekurs auf kollektive Werte auch immer zum Kontrapunkt werden. Vor der NS-Herrschaft gab das Bürgertum mehrheitlich seine Wertvorstellungen auf, um sich in die vermeintliche Volksgemeinschaft einzureihen. Der klassische Wunsch, sich durch humanistische Bildung oder bestimmte Wertvorstellungen vom gemeinen Volk abzuheben, trat vor dem Wunsch nach persönlichem Wohlstand zurück. Insoweit stehen die späten 1960er und 1970er Jahren mit ihrem gesellschaftlich erstarkenden Individualismus in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander zu jenem verordneten Nationalkollektiv in der Nazizeit. Doch der Wunsch des Bürgers nach wirtschaftlichem Aufschwung war am Anfang de 1930er Jahre nach einer gewaltigen Rezession ebenso spürbar wie im Zuge der Studentenbewegung, nachdem sich erste Risse im westdeutschen Wirtschaftswunderland gezeigt hatten.
Die wirtschaftlichen und politischen Konjunkturen können in den Mittelklassen, grob umrissen, zwei gegensätzliche Tendenzen befördern, ein Festhalten an der eigenen Autonomie gegenüber anderen Klassen und Schichten der Bevölkerung einerseits oder die Unterwerfung unter die bloßen Verhältnisse des Weltmarktes, aber auch unter einen charismatischen Führer, in dessen Hände man die Geschicke der Nation gibt. Gibt das Bürgertum seine eigenen Werte preis unter dem Vorwand, nur unter diesen Bedingungen seien diese zu verteidigen, kann eine demokratische Ordnung in Gefahr geraten, können autoritäre Zustände mit autokratischen Folgen entstehen. Es ist wie heute aber auch eine andere Option denkbar.

4.2. Transformationen der liberalen Gesellschaft

Die Selbstaufgabe der Mittelklassen kann im Ergebnis auch nach jenem Modell erfolgen, wie wir es im Zuge der 1968er beschrieben haben. Was zunächst mit einem emanzipatorischem Erwachen wie ein frischer Frühlingswind eine in überlebten Werten befangene Gesellschaft durchschüttelte, ging in ihrer dominanten Variante in einen beispiellosen Hedonismus und narzisstischen Verirrungen über, was bis heute anhält. Dabei geht die Tendenz zur Befreiung glücklicherweise nicht ganz verloren.
Die Bewegung der Frauen und der Schwulen haben viel dazu beigetragen, ‚die alten Mumien vom Podest‘ zu reißen, auch wenn einem Teil des Feminismus recht reduktive Vorstellungen von Emanzipation innewohnen. Die Debatten über den sogenannten Gender Main Stream, die nicht zuletzt auch reaktionäre Geister auf den Plan rufen, zeigen, dass sich eine Kulturelite nur allzu gerne im Sprachlich-Symbolischen aufhält, ohne das häufig viel diffusere Reale überhaupt zu erfassen. Kaum noch wahrnehmbar ist indes dabei jene den emanzipatorischen Wandlungen der 1960er Jahre folgende linksradikale Variante, die ebenfalls dazu beitrug, noch verbliebenen bürgerlichen Konventionen den Kampf anzusagen. Auch sie implizierte letztendlich ein Abtreten der Mittelklassen, die sich drappiert mit den Symbolen der Befreiung auf einen permissiven Standort zurückzogen. Doch darin waren ihnen auch andere Klassen und Schichten gleich, die sich allesamt einem Normalisierungszwang unterwarfen. Lassen wir an dieser Stelle wiederum Pier Paolo Pasolini zu Wort kommen, der in seiner Kritik an der liberalen Gesellschaft Michel Foucault doch sehr nahe kommt.
Kein faschistischer Zentralismus“, meint Pasolini, „hat das geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft geschafft hat. Der Faschismus propagierte ein reaktionäres und monumentales Modell, das sich jedoch real nie durchzusetzen vermochte. Die verschiedenen Sonderkulturen (die der Bauern, der Subproletarier, der Arbeiter) richteten sich vielmehr weiter unbeirrbar nach ihren überlieferten Modellen. Die Repression ging nur so weit, wie es zur Sicherung des verbalen Konsenses erforderlich war. Heute dagegen ist der vom Zentrum geforderte Konsens zu den herrschenden Modellen bedingungslos und total. Die alten kulturellen Modelle werden verleugnet. […]
Mit Hilfe des Fernsehens hat das Zentrum das Ganze Land, das historisch außerordentlich vielfältig und reich an originären Kulturen war, seinem Bilde angeglichen. Ein Prozess der Nivellierung hat begonnen, der alles Authentische und Besondere vernichtet. Das Zentrum erhob seine Modelle zu Normen der Industrialisierung, die sich nicht mehr damit zufrieden geben, dass der ‚Mensch konsumiert‘, sondern mit dem Anspruch auftreten, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsums geben.

4.3 Die in Unordnung geratenen Seinsweisen der Menschen

In dieser Zeit mit weltweit zunehmenden autokratischen Tendenzen stellt sich aus heutiger Sicht die Frage, ob diese nicht auf jenen toxischen Individualismus reagieren, mit dem sich ein notwendiges Gleichgewicht zwischen dem Selbstsein(dem Menschen in seinen Eigeninteressen und Befindlichkeiten), dem Mitsein (dem Menschen als gesellschaftliches Wesen) und dem Gegebensein (die Natur, Gott) verloren hat. Eingedenk der klimatischen Verwüstungen, die vielfach in der Öffentlichkeit wie eine Heimsuchung empfunden werden, erscheint Letzteres heute zwar in einem gänzlich anderen Licht. Die jungen Leute, die freitags aus Sorge um ihre Zukunft auf die Straße gehen, spüren selbst angesichts ihres eigenen Selfie-Individualismus, dass dieses Gefüge nicht in Ordnung ist. Denn wenn wir Pasolini richtig verstehen, dann kann die Selbstaufgabe der Mittelklassen auch darin bestehen, dass diese ihren Konsumismus, Hedonismus und ihren zur Schau getragenen Liberalismus auf den Ruinen ihrer einstigen Wertvorstellungen und Konventionen gesellschaftsfähig machen. 
Das Paradoxe an dieser Entwicklung lässt sich nur schwer beschreiben. Sicherlich, es gibt die in sozialer Hinsicht Abgehängten, seien es Individuen, Städte, Regionen oder ganze Länder. Sie brauchen ihre Ohren nicht mehr vor den „Zukunfts-Sirenen des Marktes“ (Nietzsche) zu verstopfen, weil diese ohnehin schon lange keine Wirkumg mehr auf sie ausüben. Nicht nur sie wenden sich aber zu Recht oder zu Unrecht anderen Sirenen zu, die lautstark auf sich aufmerksam machen und ihre Zuhörer ins Verhängnis führen. Aber auch in der Mitte der Gesellschaft fühlen sich Menschen durch das rücksichtslose, zuweilen übergriffige Verhalten ihrer Mitmenschen belästigt oder gar bedroht, obwohl es doch sie selbst sind, die sich auf ähnliche Weise verhalten können. Auf allen Ebenen wird man gewahr, wie sehr sich die Relationen zwischen den Seinsformen verschoben haben. Der einstigen Einseitigkeit, jener alten Uniformität platter Gehorsamsregeln, ist eine nicht minder banale Monotonie unterschiedslosen Geplappers gewichen, von dem Neil Postman schon in den 1980er Jahren gesprochen hatte. Dabei ist unverkennbar, wie Foucault es einmal irgendwo formulierte, dass das Ungesagte weitaus mehr über den gesellschaftlichen Diskurs aussagt als das, was sich eigentlich in Wort, Bild und Ton darstellt.
Demokratie bedeutet aber, im Diskurs wieder richtig zu rücken, was eben durch diesen in Verhalten und Erziehung in Unordnung geraten ist. Es ist aber nicht sicher, ob diese Strategie noch verfangen kann. Zu sehr drückt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene jene Versuchung des charismatischen oder wenigstens doch mächtigen Führers, der vermeintlich heilt, was in der sozialen Wirklichkeit zerbrochen wurde.

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5. Bilanz

Es bedeutet aber auch, dass geltende Koordinaten einer Überprüfung bedürfen. Was ‚rechts‘ und ‚links‘ ist, hat sich nicht nur an diskursiven Traditionen zu orientieren. Dass das eine bisher zumeist beschränkter Nationalismus und aggressiver Rassismus bedeutet, ist zwar heute immer noch richtig. Ebenso auch dass das andere sich mit Weltoffenheit und Toleranz verbindet. Und doch können wir diese sehr ins Allgemeine gehaltene Aussage nicht mehr ungeteilt übernehmen, zumal beide Traditionen von Verbrechen gezeichnet sind, die in ihrem Namen begangen wurden. Was ‚Faschismus‘ heißt, ist zwar nicht immer genau definiert, doch wenigstens in Bildern hinreichend bekannt. Was ‚Antifaschismus‘ besagt, hat noch diffusere Bilder hervorgebracht, die des Aufstands im jüdischen Ghetto, die der französischen Résistance, der Partisanen in den besetzten Gebieten, aber auch jener Terror, der im Namen der Befreiung gegen Antifaschisten, Juden und Christen, selbst gegen Kommunisten und parteilose Linke wüten sollte. An vermeintlich charismatischen Führern hat es auf beiden Seiten nicht gemangelt. Doch Lichtalben haben sich fast ausschließlich als Nachtgestalten zu erkennen gegeben. Die Traditionen sind verbaut, auch wenn ich mit den meisten Antifaschisten sympathisiere, die für eine gute Sache zu kämpfen glauben und es zumeist auch tun.
Was heute gerade im Zeichen des Weltmarktes so verheißungsvoll erscheint, kann nicht nur neue einseitige Abhängigkeiten wie im Kolonialzeitalter produzieren. Es kann auch im Inneren der Regionen und Nationen Stimmungs- und Bewusstseinslagen hervorbringen, die genau deren Selbstisolation oder gar Rassenhochmut bewirken. Zugleich ist aber auch denkbar, dass diese ihre Autonomie gegenüber dem Weltmarkt verteidigen, dass sie sich einem als falsch erkannten Weg verweigern, wie dies etwa beim Staat Kalifornien der Fall ist, der sich von der verhängnisvollen Klimapolitik der jetzigen US-amerikanischen Zentralregierung abgrenzt. Vor dem Hintergrund des Brexit rückt die so lang umkämpfte nationale Einheit Irlands ebenso in den Bereich des Möglichen wie die Unabhängigkeit Schottlands. 
Nicht weniger stellt sich die Frage, was denn geschähe, wenn sich ein einstmals frei gewählter Präsident der Europäischen Kommission auf ähnlich politische Weise gebärdete wie die Herren Orban oder Salvini. Wir sprachen von Stimmungs- und Bewusstseinslagen. Warum sollte in der Europäischen Union nicht möglich sein, was im Superstaat USA längst Realität geworden ist, wo der Präsident Teile seines Volkes gegeneinander ausspielt, hohe Grenzzäune errichten will und Einwanderer tutti quanti aufs Übelste diffamiert und schikaniert. 
Wie die festen Milieus in der Gesellschaft schwinden, so müssen auch diskursive Traditionen aus ihrer Genese und Entwicklung bewertet werden. Was ‚rückschrittlich‘ oder ‚progressiv‘ ist, muss sich aufgrund heutiger Erfahrungen aus den jeweiligen Kontexten ergeben. ‚Individualismus‘, seines Zeichens als Erbschaft unserer Kultur ein Äquivalent für das erstrebte Ziel eigenständigen Denkens und Handels, ist heute kein unschuldiges Kind mehr. Ebensowenig ist gesellschaftlicher Zusammenhang und soziale Solidarität nicht mehr unbedingt mit einen Zwangskollektiv zu verwechseln, das Dissens der Meinungen und Differenz der Lebensauffassungen nicht zuließe. Auch Geschichte bedeutet, neue Erfahrungen zu machen, ohne in alte Traditionen zurückfallen zu müssen.

Donnerstag, 23. Mai 2019

02-2019: Wissenschaft, Gesellschaft und Wertung (mit neuem Zusatz vom 9. Mai 2019)


In meiner Schul- und Studentenzeit waren mir Bewertungen ein Gräuel. Ich hasste es, bewertet zu werden, vielleicht auch aus der Sorge, man könnte eher aufgrund von Aussehen, Herkunft und Eltern taxiert werden. Hinzu kam, dass der Leistungsgedanken vor dem Hintergrund der dann verglimmenden Studentenbewegung in den 1970er und 1980er Jahre nicht gerade en vogue war. Ich erinnere mich noch gut der Sitzstreiks, die Studentengruppen gegen sprachliche Einstufungstests anstifteten, weil sie der Ansicht waren, dass diese nur zu weiteren Ungerechtigkeiten führen würden.
Heute bin ich ganz anderer Meinung, nicht zuletzt deshalb, weil Leistung die einzige Kategorie ist, die Menschen im Wettbewerb noch eine reale Chance gibt. Sie bietet dem Einzelnen die Möglichkeit, seine Kompetenz unter Beweis zu stellen, im Vergleich mit jenen, die dies auf gleicher Ebene tun. Konkurrenz kann für alle Mitbewerber zerstörerisch sein, aber Nepotismus ist es in noch umfassenderen Sinn, da er als aristokratisches Prinzip vornehmlich auf große Namen setzt, und dies meist indem er von deren Leistungen absieht. Am besten ist ein fairer Wettbewerb, der eben zunächst die Leistungen der Bewerber bewertet, um dann Geschlecht, Augen- oder Haarfarbe in Betracht zu ziehen.
Damit kommen wir zu einem entscheidenden Punkt des Leistungsprinzips. Menschen vergleichen unausgesetzt, auch wenn sie sich selbst vielleicht Vergleichen nicht immer stellen mögen. Sie fragen sich z. B. bei der jetzigen Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche, warum ein Priester, der sich an einem Kind vergeht, besser gestellt sein soll als ein Arzt an einem katholischen Krankenhaus, der seine Arbeit verliert, weil er gegen das Sakrament der Ehe verstösst und ein zweites Mal heiratet. Vergleiche sind auch die Grundlage des Leistungsprinzips, da hier ungeachtet der Person und ihrem Ansehen entsprechende Parameter in Beziehung gesetzt werden.










In meiner Schul- und Studentenzeit waren mir Bewertungen ein Gräuel. Ich hasste es, bewertet zu werden, vielleicht auch aus der Sorge, man könnte eher aufgrund von Aussehen, Herkunft und Eltern taxiert werden. Hinzu kam, dass der Leistungsgedanken vor dem Hintergrund der dann verglimmenden Studentenbewegung in den 1970er und 1980er Jahre nicht gerade en vogue war. Ich erinnere mich noch gut der Sitzstreiks, die Studentengruppen gegen sprachliche Einstufungstests anstifteten, weil sie der Ansicht waren, dass diese nur zu weiteren Ungerechtigkeiten führen würden.
Heute bin ich ganz anderer Meinung, nicht zuletzt deshalb, weil Leistung die einzige Kategorie ist, die Menschen im Wettbewerb noch eine reale Chance gibt. Sie bietet dem Einzelnen die Möglichkeit, seine Kompetenz unter Beweis zu stellen, im Vergleich mit jenen, die dies auf gleicher Ebene tun. Konkurrenz kann für alle Mitbewerber zerstörerisch sein, aber Nepotismus ist es in noch umfassenderen Sinn, da er als aristokratisches Prinzip vornehmlich auf große Namen setzt, und dies meist indem er von deren Leistungen absieht. Am besten ist ein fairer Wettbewerb, der eben zunächst die Leistungen der Bewerber bewertet, um dann Geschlecht, Augen- oder Haarfarbe in Betracht zu ziehen.
Damit kommen wir zu einem entscheidenden Punkt des Leistungsprinzips. Menschen vergleichen unausgesetzt, auch wenn sie sich selbst vielleicht Vergleichen nicht immer stellen mögen. Sie fragen sich z. B. bei der jetzigen Missbrauchsdebatte in der katholischen Kirche, warum ein Priester, der sich an einem Kind vergeht, besser gestellt sein soll als ein Arzt an einem katholischen Krankenhaus, der seine Arbeit verliert, weil er gegen das Sakrament der Ehe verstösst und ein zweites Mal heiratet. Vergleiche sind auch die Grundlage des Leistungsprinzips, da hier ungeachtet der Person und ihrem Ansehen entsprechende Parameter in Beziehung gesetzt werden.
Die gegenwärtige Krise unserer westlichen Gesellschaften liegt aus meiner Sicht in der Gestaltung des Leistungsprinzips. Sie umfasst alle Bereiche des öffentlichen Lebens, die Bildungseinrichtungen, die Kirchen und die Politik. Denn inzwischen fällt dem Leistungsprinzip jene Rolle zu, die im vorrevolutionären Frankreich dem cartesianischen Cogito als Sprengsatz der ständische Gesellschaft mit ihren Privilegien zugekommen war. Angesichts wachsender Dysfunktionen in Politik und Wirtschaft, der Rolle des TÜV’s bei der Abnahme des Unglücksstaudamms in Brasilien, des Flughafens in Berlin fragen sich immer mehr Menschen in anstrengenden, aber unterbezahlten Positionen, warum die Herrschaften in der bel étage aus ihrer Sicht für ihre an sich untalentierte Arbeit, ihre Inkompetenz und Verantwortungslosigkeit so gut honoriert werden. Ähnliche Vorwürfe richten sich gegen Politiker aller Kolör, zumal mit dem Hinweis, dass diese für ihre möglichen Fehlentscheidungen auch haftbar gemacht werden sollten.
Machen wir einen kleinen Exkurs in die Geschichte der Philosophie. Warum entstand diese nicht in den grossen archaischen Reichen, sondern gerade in den griechischen Stadtstaaten? Die Antwort auf diese Frage geben Gilles Deleuze und Félix Guattari. In Persien sind es die gottähnlichen Monarchen, die über Recht und Unrecht entscheiden, die Urteile sprechen. Unterliegen diese hier keinerlei Befragung gegensätzlicher oder abweichender Standpunkte, so sind sie in der griechischen Polis Gegenstand von Debatten. Aus dieser Notwendigkeit, Werturteile zu begründen und zu erklären entsteht die Philosophie der Antike. Es bedarf einer grundsätzlichen Wertorientierung, auf deren Grundlage auch im praktischen Leben gehandelt werden kann.
Gerade unsere demokratische Gesellschaft lebt vom Aushandeln von Werturteilen, zumal dann, wenn sie auf dem Pluralismus von Meinungen und Perspektiven beruht. Denn wie anders sollte über die Legitimität von Anliegen befunden werden, wenn nicht durch meinungsbildende Prozesse? Doch können diese nicht auf angemessene Weise stattfinden, wenn ihnen der zugrunde liegende Kompass abhanden gekommen ist.
Meine Erfahrungen beziehen sich natürlich zunächst auf den Bereich der Hochschulen, wo Berufungsentscheidungen in den letzten Jahren immer häufiger in Zweifel gezogen werden. Aber so ließe sich fragen, wie ist es um die Wissenschaften, besonders die Geisteswissenschaften bestellt, wenn Kommissionen sich nicht auf einen Wertekanon oder objektivierbare Kriterien stützen, um geeignete Kandidaten für Professuren zu finden, wenn sie eher sekundären Ausschlusskriterien folgen, wenn sie darauf verzichten, unabhängige Positionen gegenüber Netzwerken Respekt zu zollen. Kann eine Wissenschaft, die letztlich auf derart schütteren Grundlagen beruht, selbst überhaupt noch Werturteile aussprechen? Hat sie sich nicht schon längst im Ränkespiel der Wissenschaftler selbst aufgegeben? Gilt Ähnliches nicht auch für die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die die Fülle der Anträge mit ihrem Budget abstimmen muss und dabei auch außerwissenschaftliche Interessenlagen, wie das Alter des Antragstellers, die Rolle seines Arbeitsbereichs zu berücksichtigen hat. Ich selbst wollte zu einem afrikanischen Thema arbeiten und musste bei der Durchsicht bisher bewilligter Projekte feststellen, dass Afrika seinerzeit (2015) so gut wie keine Rolle bei der DFG spielte. Wer aber, mit welcher Autorität, urteilt hier über die Legitimität von Projekten? Natürlich derjenige, der die seinigen durchzusetzen sucht. Hier verhandelt also Partei gegen Partei. Hier geht es einzig und allein von Einflusssphären, die Personen, aber auch Fächer betreffen. Wie ich den entsprechenden Gutachten entnehmen konnte, mangelt es gerade hier an einer orientierenden Grundlage, die eigentlich jeder Beurteilung vorausgehen müsste, zumal man/frau/es dem Antragsteller zugesteht, dass er die intellektuelle Eignung habe, sein an sich wichtiges Projekt erfolgreich zu Ende zu führen. Stattdessen ergehen sich die Formulierungen in kleingeistigen Hinweisen auf das Fehlen dieses oder jenes Titels, auf mein Alter, auf die aus ihrer Sicht zuweilen antragsfremde Diktion, auf meine an sich reichhaltige Publikationsliste…“Von daher“, wie heutzutage jede Begründung in der Alltagssprache eingeleitet wird, ist auch nicht mit einer wirklichen Würdigung eines derartigen Projekts zu rechnen, wenn es nicht in die Befindlichkeiten und Interessenlage von Gutachtern hineinpasst. Aus diesem Grund müssen diese auch ebenso anonym sein wie deren verlautbarte Sprache, die sich kaum mit dem Anliegen eines solchen Projekts auseinandersetzt und in Allgemeinplätzen zu verharren pflegt.
Aber ich will nicht reduktiv auf diese Erfahrungen aus einem Bereich setzen, der für die meisten Bürger dieses Landes ohnehin keine oder zumindest keine sonderlich große Rolle spielt. Denn ob es sich um die Diäten der Abgeordneten handelt, um die überdimensionierte Altersversorgung von Dax-Vorständen, überall stellen sich Menschen die Frage nach der Legitimität derartiger Bezüge. Und natürlich auch die Frage der tüchtigen Habenichtse, warum ihre Arbeit nicht auch entsprechende Anerkennung findet.
Die Wertschätzung von Tätigkeiten und Kompetenzen, kurzum von Leistungen ist die Grundlage der bürgerlich-liberalen Gesellschaft. Diese hatte vor mehr als zweihundert Jahren mit dem Versprechen begonnen, dass sich der Bürger einen Namen machen muss, den er im Gegensatz zum Aristokraten nicht hat. Geräten diese Fundamente ins Wanken, erleben die Rattenfänger mit ihren falschen Verheißungen Hochkonjunktur.
Blicken wir uns um. Ob in den USA, in Brasilien oder auf den Philippinen – überall ist die liberale Ordnung erschüttert. Es ist nur eine Frage der Zeit, wenn diese Erschütterungen auch uns in Deutschland treffen werden. Europa ist keine Euroase mehr. In Italien sind die liberalen Parteien am Ende. Und in unserem geliebten Nachbarland Frankreich toben bürgerkriegsähnliche Unruhen gegen einen Präsidenten, der bei der Einweihung eines neuen Bahnhofs von einem Ort spricht, in dem erfolgreiche Menschen auf jene treffen, die nichts sind (Originalzitat: „Dans une gare, on croise des gens qui réussissent et des gens qui ne sont rien“). Was für eine eitle Maskerade der Bevorrechteten, die genau wissen, wen sie zu den Bevorrechteten zu zählen haben, zumal sie selbst die Mechanismen der Bevorrechtung aus eigenem Erleben, aus der eigenen Karriere erfahren haben! Dieser Zynismus der Herrschenden wird die Beherrschten dazu veranlassen, ihren Respekt zu verlieren.

Zusatz, Berlin, 9. Mai 2019

Viele Zeitgenossen scheinen gar nicht bemerkt zu haben, dass das sogenannte Profiling nach Geschlecht, sexueller Orientierung, Herkunft, Religion o.Ä. gerade jenen Macht verleiht, die diese im Namen von Gleichberechtigung, Gerechtigkeit u.s.w. über andere ausüben. Dass diesen notwendigen und löblichen Postulaten damit äußerst selten gedient ist, liegt auf der Hand. Dass sie zu Instrumenten in den Händen dieser Wohlverteiler werden, die damit auch überall da, wo Stellen ausgeschrieben und Posten verteilt werden, Privilegien einräumen oder sie auch entziehen, ist eine allgemein anerkannte Einsicht. Aber dieser folgt kein adäquates Handeln, zumal man sich doch auf der richtigen Seite sieht. Gleichberechtigung ist aber nur dann möglich, wenn wir ungeachtet unseres Geschlechts, unserer sexuellen Orientierung, unserer Herkunft nach unseren Leistungen beurteilt werden. 
Dies war unter besonders erstarrten patriarchalen Verhältnissen nicht der Fall, als Frauen der Zutritt zu Akademie und Universität versperrt war. Es ist gut, dass diese Zeiten der Vergangenheit angehören, und es ist richtig, dass noch mehr getan werden muss, damit Frauen einen gleichberechtigten Platz in allen Wissenschaften einnehmen. Aber dies darf nicht um den Preis neuer Ungerechtigkeiten geschehen, deren Opfer Frauen und Männer gleichermaßen sind. Ich weiß, dass ich hier von Selbstverständlichkeiten und Banalitäten spreche. Umso schlimmer für die Tatsachen, möchte man mit Ernst Bloch einwerfen. Umso schlimmer, dass wir hier von Banalitäten sprechen, die dem Normalisierungszwang zuwiderlaufen. An diesen Tatsachen wird sich zeit meines Lebens wohl nichts mehr ändern.
Ich habe Jahrzehnte gegen dieses Profiling gekämpft, das meine akademische Laufbahn zerstörte. Ich habe diesen Kampf, wie zu erwarten war, verloren und aufgegeben. Aber ich blicke ohne Zorn auf meine Zeit, die Emanzipation und Gleichberechtigung verhieß, ohne dass ich sie selbst jemals am eigenen Leibe erlebt hätte. Unter diesen Umständen fällt es mir jedoch nicht schwer, mir vorzustellen, wie Frauen einstmals behandelt wurden und z. T. auch heute noch behandelt werden können, wenn sie sich auf eine Professur bewerben. Weiterer Erkenntnisgewinn in unserer Zeit ist jedoch, dass wir nicht mehr Frauen sein müssen, um Missverhältnisse bei Berufungen, DFG-Anträgen zu erfassen. Sicherlich war dies auch weit früher schon der Fall, denn auch unter patriarchalen Bedingungen galt unter Männern nicht die volle Gleichberechtigung. Was war mit jüdischen Wissenschaftlern, die nicht erst durch die Nazis diskriminiert wurden? Und natürlich geht es auch Frauen heute nicht unähnlich, wenn sie es unter vermeintlich frauenfreundlicheren Bedingungen trotz ihrer Leistungen keine berufliche Anerkennung finden. Aber zu keiner Zeit wurde soviel von Chancengleichheit gesprochen wie in der unsrigen. Und zu keiner Zeit wurde soviel geheuchelt wie in der heutigen.
Es wird späteren Generationen, Akademikerinnen und Akademikern, vorbehalten bleiben, diesen Kampf auszufechten und so mehr Chancengleichheit zu erwirken.












03-04-2019: Aus gegebenen Anlass zwei Gedichte




03-2019: Emmy Hennings (1885-1948): Tänzerin

Dir ist als ob ich schon gezeichnet wäre
Und auf der Totenliste stünde.
Es hält mich ab von mancher Sünde.
Wie langsam ich am Leben zehre.

Und ängstlich sind oft meine Schritte,
Mein Herz hat einen kranken Schlag
Und schwächer wird's mit jedem Tag.
Ein Todesengel steht in meines Zimmers Mitte.

Doch tanz ich bis zur Atemnot.
Bald werde ich im Grabe liegen
Und niemand wird sich an mich schmiegen.
Ach, küssen will ich bis zum Tod.


04-2019: Conrad Ferdinand Meyer (1825-1895) 

Wie pocht' das Herz mir in der Brust
Trotz meiner jungen Wanderlust,
Wann, heimgewendet, ich erschaut
Die Schneegebirge, süss umblaut,
Das grosse stille Leuchten!

Ich atmet eilig, wie auf Raub,
Der Märkte Dunst, der Städte Staub.
Ich sah den Kampf. Was sagest du,
Mein reines Firnelicht, dazu,
Du grosses stilles Leuchten?

Nie prahlt ich mit der Heimat noch
Und liebe sie von Herzen doch!
In meinem Wesen und Gedicht
Allüberall ist Firnelicht,
Das grosse stille Leuchten.

Was kann ich für die Heimat tun,
Bevor ich geh im Grabe ruhn?
Was geb ich, das dem Tod entflieht?
Vielleicht ein Wort, vielleicht ein Lied,
Ein kleines stilles Leuchten!