Ein Versuch, mir meine Trauer, Resignation und Wut von der Seele zu schreiben, um nicht daran zu zerbrechen

Sonntag, 3. Juni 2018

2018-02: Repressive Toleranz als alte und neue Form der Gewalt



Mitte der 1960er Jahre sollte einer der großen Theoretiker der späteren Studentenbewegung, Herbert Marcuse, einen Begriff prägen, der auch zum Verständnis unserer heutigen Debatten von Nutzen sein kann: die repressive Toleranz. Dieser ehrenwerte Begriff, allerdings ohne das beigefügte Adjektiv, war schon ein Axiom der (französischen) Aufklärung geworden. Er setzte einen Kontrapunkt zu jenem Fanatismus, dessen Quellen und Auswirkungen stets auf Aberglauben und Obskurantismus zu verweisen pflegten. Eine von der absolutistischen Macht korrumpierte Kirche setzte weniger auf die Macht des Glaubens und der Ideen als auf eine Gewalt, die an die niedrigsten Instinkte der Massen appellierte. Der Justizskandal um die Hugenottenfamilie Calas, der Frankreich in den 1760er Jahre erschütterte, nahm Voltaire zum Anlass, um unmittelbar in die politischen Verhältnisse einzugreifen. Philosophen wie Rousseau machten die Toleranz zum Herzstück ihrer Zivilreligion.
In den modernen westlichen Demokratien avancierte der Begriff geradezu zur Grundlage pluralistischer Parteiensysteme. Doch eben diese trügerische Etablierung in die moderne Staatsräson war es, die Marcuse dazu bewogen hatte, von einer repressiven Seite der Toleranz zu sprechen. Denn auch demokratische Regierungen üben sich da in repressiven Praktiken, wo sie ihre Interessen, Grenzen, Vorteile und strategische Erwägungen gefährdet sehen, eben so, wie es auch Diktaturen zu tun pflegen, die sich dabei allerdings wenig um die Toleranz anderer Meinungen zu scheren pflegen. Im Namen der Demokratie werden allerdings gerade auch Maßnahmen legitimiert und verteidigt, die nicht unserer Toleranz bedürfen, sondern eher unseren Widerstand zu spüren bekommen sollten. So werden Bündnisse mit manifesten Tyranneien geschlossen, Lobbyvertretern mehr Gehör und Beachtung geschenkt als Argumenten und Kriege geführt, um den Status Quo einer zutiefst ungerechten Weltwirtschaftsordnung aufrecht zu erhalten, als die sie Papst Franziskus jüngst bezeichnet hatte.
Damit aber wird der Geist der Toleranz in sein Gegenteil verkehrt. Unter den heutigen Bedingungen der politischen und sprachlichen Korrektheit erhält der in sich paradox erscheinende Begriff einen weiteren Begründungszusammenhang. In den letzten 25 Jahren hat sich politisches und gesellschaftliches Klima durchgesetzt, das nicht wenige auch noch für denkbar links, liberal und freiheitlich halten. Nicht verhindert wurde damit das Entstehen einer Gegenöffentlichkeit, die sich zwar Versatzstücke linker Politik zunutze macht, dabei aber zugleich an reaktionäre Dämonen appelliert. Deren sprachliche Entgleisungen können aber nur als Provokationen gelten, die die rational nicht immer nachvollziehbaren Grenzen des Sagbaren sichtbar machen. Um es klar zu sagen: Rassistische und antisemitische Diffamierungen haben nichts mit einem rationalen Diskurs zu tun, der sich zurecht gegen approbierte Wortpirouetten und Wendungen wehrt. Darin liegt doch gerade der Respekt vor sozialen und kulturellen Differenzen, vor anderen Meinungen, vor anderen sexuellen Orientierungen. Dass es im öffentlichen Diskurs und Disput immer um die Sache geht, bei der Herabsetzungen politisch Andersdenkender im Gegensatz zum Begriff der Toleranz keinen Platz haben.
Aber es ist nicht einzusehen, dass wir die Räume jenseits von Beleidigungen und bloßen Provokationen ausloten und auch besetzen dürfen, selbst wenn hier das gewohnte Terrain der politischen und sprachlichen Korrektheit verlassen wird. Die neue repressive Toleranz greift überall da, wo streitbare Meinungen und Positionen Sprachregelungen zu verletzen drohen, die wie stillschweigende Vereinbarungen gehandelt werden. Diese erinnern an einen autoritären Chef, der ohne Absprache mit seinen Mitarbeitern Anordnungen trifft, die er aber ausdrücklich als Ergebnis von Vereinbarungen ausgibt.
In der Universität gilt eine problematische Genderpolitik, die Dozenten wie Studenten umständliche und unelegante Formulierungen aufnötigt. Ich erspare mir, an dieser Stelle Beispiele zu geben. Wer diese Regeln nicht einhält, gerät recht rasch in Verdacht, ein Chauvinist zu sein, Frauen zu verachten und Schwule zu diskriminieren. Abgesehen davon, dass ich jede Gesinnungsschnüffelei für falsch halte, frage ich mich doch, ob all jene Sprecher, die im Sinne der oben angezeigten Sprachregelung handeln, tatsächlich keine Chauvinisten sind, Frauen nicht verachten und Schwule nicht diskriminieren. Eine nickende sprachliche Maske ist aber nicht zwangsläufig das Gesicht eines Sprechers, der seine Überzeugungen in seinen Aussagen zum Ausdruck bringt. Die Befürworter sprachlicher Korrektheit unterliegen dem naiven Urteil, dass sich in der Sprache auch immer das Reale ausdrücken muss. Dass dies in der Hochschule geschieht, ist umso schmerzlicher, als doch gerade hier in Literatur- und Kulturwissenschaft eigentlich bessere Einsichten über die Moderne gewonnen wurden. Der öffentliche Diskurs wird so gegängelt oder gar unterbunden, so dass kreative Auseinandersetzungen im Rahmen angstfreier und offener Debatten entlang gesellschaftlicher Konfliktlinien kaum noch eine Chance haben. 

Besonders eher diskursunerfahrene Menschen fürchten sich, Positionen zu vertreten, die womöglich nicht immer dem erreichten Stand der Diskussion entsprechen oder lieb gewordene Steckenpferde des sogenannten Mainstreams zur Disposition stellen. Sie können so leicht Opfer von Provokateuren werden, die sie vereinnahmen und zum Spielball ihrer Interessen machen.

Repressive Toleranz macht sich aber auch an anderer Stelle im Wissenschaftsbetrieb bemerkbar. Wissenschaftliche Schulen und Theoriezusammenhänge sind häufig nicht Grundlagen eines notwendigen Austauschs und Dialogs, sondern stecken vielmehr Einfluss- und Interessenssphären ab, in denen immer noch Meisterdenker herrschen, ohne dass diese aber als solche angesprochen werden wollen. Wer in den Geisteswissenschaften Erfolg haben will, sollte möglichst weiblich und jung sein, um sich dabei dann einem theoretischen Zusammenhang anzuschließen, der es im wissenschaftlichen Diskurs zu etwas gebracht hat. Eigenständige oder gar eigenwillige Positionen haben da am allerwenigsten eine Chance, wenn sie von Männern geäußert werden, die der Genderpolitik (nicht so sehr der entsprechenden Theorie) auch noch skeptisch gegenüber treten. Diese haben dann als so ‚misogyn‘ und ‚phallozentrisch‘ zu gelten, dass ihnen kein Platz mehr an einer deutschen Hochschule beschieden sein kann.
Alles im allem. Unser gesellschaftlicher Diskurs ist alles andere als von Toleranz geprägt. In ihn fließen vielmehr jene Grenzen ein, die der freien Rede gesetzt sind. Denn die repressive Toleranz lässt es nicht zu, dass sich mit den besten Argumenten auch Innovationen durchsetzen, sondern dass mit den ohnehin Einflussreichen auch das Vorhersagbare siegt. Meister wollen ihre Ebenbilder produzieren, die indes nicht besser sein können als ihre Originale.