Ein Versuch, mir meine Trauer, Resignation und Wut von der Seele zu schreiben, um nicht daran zu zerbrechen

Montag, 27. August 2018

2018-04 Romanisten intra et extra muros








Wer in seinem Leben ein gewisses Alter erreicht hat, dürfte eine ungemein große Menge von Zeitgenossen kennengelernt haben. Anlässlich meiner Dissertation musste ich seinerzeit zahlreiche portugiesische Theaterstücke lesen, von denen mir besonders eines in guter Erinnerung geblieben ist. In diesem existenzialistischen Mehrakter mit dem bezeichnenden Titel Condenados à vida (1963; zu Deutsch vielleicht Zum Leben verurteilt) von Luís Francisco Rebello geht es um die Frage, wie Menschen ins Leben finden, welchen Weg sie einschlagen, wohin sie gehen wollen und wo sie schließlich ankommen. Das Bild, das im Stück gewählt wird, ist ein großer Bahnhof mit ein- und ausfahrenden Züge. Menschen, so glaube ich mich zu erinnern, blicken einander an, wechseln beim Umsteigen ein paar Worte miteinander, um dann ihre Reise fortzusetzen. Ich fand dieses Bild damals schon ansprechend, da es tatsächlich unsere Lebenswirklichkeit wiedergibt. Wir treffen Menschen, lernen sie vielleicht ein wenig oder auch besser kennen (und vergessen dabei zuweilen auch ihre Namen), um sie alsbald wieder aus den Augen zu verlieren, so als hätten sie niemals für uns existiert, wie auf einer Durchreise, wie wir sie im Übergang von einer Phase unseres Lebens zu einer anderen erleben, oder manchmal auch von einem Drama zum anderen. Alles erscheint oftmals so flüchtig und konturlos, und doch bleiben selbst in diesen flüchtigen Begegnungen noch Erinnerungen an Menschen, die einmal unseren Alltag kreuzten.
So unüberschaubar die Anzahl der Menschen ist, die einmal Teil unserer Gespräche, bisweilen sogar unseres Handelns wurden, so sehr verengt sich doch die Sicht, wenn wir auf unser Studium zurückblicken. Die Kommilitonen, die sich wie ich der Romanistik zuwandten, lassen sich zwar nicht an einer Hand ablesen. Und doch bleibt ihre Gruppe übersichtlich genug, um die wichtigsten unter ihnen noch mit Namen zu kennen. Als ich meine Dissertation abschloss, nahm ich zwar nicht an, dass ich ein Orchideenfach studiert hatte, aber eben auch nicht ein solches Massensortiment wie Jura, Betriebswirtschaft oder Ingenieurwesen. Immerhin werden auch an den Romanischen Seminaren und Instituten Lehrer für den Französisch-, Spanisch. Und Italienischunterricht ausgebildet, die dazu bestimmt sind, auf die inzwischen unterbesetzten Stellen an den Schulen nachzurücken.
In einem größeren Kreis der Atlantikbrücke, zu der ich vor zwölf Jahren einmal eingeladen worden war, musste ich allerdings erkennen, dass ich mit meiner Annahme im Irrtum war. Zahlreiche prominente, aber auch weniger bekannte Leute gaben damals zu erkennen, dass sie französische Literatur- oder spanische Sprachwissenschaft studiert hatten. Sie schienen alle ihren Beruf oder ihre Berufung gefunden zu haben. Sie machten mir deshalb seinerzeit ausnahmslos Mut, meinen Traum von einer Lehr- und Forschungstätigkeit in diesem schönen Fach nicht aufzugeben und vor allem optimistisch in die Zukunft zu blicken. Natürlich bin ich ihren Rat, so gut ich konnte, gefolgt. Es erübrigt sich, heute über diese Naivität zu lächeln oder darauf gar mit Zynismus zu reagieren.
Da ich heute kaum noch Gelegenheit habe, mich mit Kollegen über die wohl nicht ganz unproblematische Situation unserer Disziplin auszutauschen, dachte ich, nun ganz und gar extra muros zu sein. Was hatte der Deutsch- und Integrationsunterricht für Migranten und Flüchtlinge schon mit Absolventen oder Studienabbrecher der Romanistik zu tun? Doch auch jetzt muss ich umso mehr erkennen, dass unzählige Kollegen auch aus unserem Fach kommen. Angesichts des Umstands, dass sich so viele helle Köpfe unter ihnen befinden, kann ich mich heute fast über den überstürzten Ausgang meiner Universitätslaufbahn hinwegtrösten. Allerdings nur fast, denn auf habilitierte Kollegen bin ich bis jetzt jedenfalls nicht gestoßen. Nichtsdestotrotz überrascht mich die große Zahl von guten Leuten, die unserem Fach den Rücken zugewandt haben und sich nolens volens umorientieren mussten. Es ist zumindest schön, sich nicht als Einzelgänger außerhalb der schützenden Mauern der Hochschule zu befinden.
Was aber geschieht mit jenen glücklichen oder vielleicht auch unglücklichen Kollegen, die die Chance haben, ihren Beruf intra muros ausüben zu können. Von nicht wenigen weiß ich, dass sie mit Erleichterung in den Ruhestand gegangen sind, weil sie die katastrophalen Auswirkungen des Bolognaprozesses für dieses interdisziplinär-komparatistischen Faches nicht mehr ertragen konnten, weil sie um die Freiheit ihrer Lehre fürchteten und nicht zuletzt, weil sie daran verzweifelten, dass ihre Professuren nach ihrer Emeritierung abgewickelt werden. Noch immer soll es Menschen geben, die sich auch ein Leben nach ihrem eigenen Ableben vorstellen wollen und viel dafür tun, dass nach ihnen eben nicht die Sintflut kommt. Andere wiederum haben genug von einer an sich hochqualifizierten Lehre, die den vielfach unvorbereiteten Studenten nicht mehr entsprechen mag. Und daran haben diese nur einen maßvollen Anteil. Was sollen sie denn tun, wenn hinter ihnen kulturelle Traditionen zusammengebrochen sind, auf die sie selbst längst nicht mehr bauen können? Andere Kollegen mögen vielleicht erkennen, dass sie nicht unbedingt den richtigen Beruf gewählt haben, oder besser gesagt, dass man sie nicht auf die richtige Stelle gesetzt hat. So vertraute mir ein Kollege unlängst an, dass er wohl als Bibliothekar am richtigeren Platz gewesen wäre.
Doch was soll man tun, und damit kehren wir zu jenem Bild zurück, mit dem wir diesen Blog eingeführt haben. Man begegnet sich auf einem imaginären Bahnhof des Lebens. Üblicherweise nimmt man den Zug, von dem man glaubt, dass er am angestrebten Ziel ankommen mag. Nicht alle bekommen aber den Fahrschein, den sie sich so gewünscht haben. Die einen treffen genau die richtigen Menschen, von denen sie nach vorne geschoben werden, die anderen verfehlen eine solche Begegnung, vielleicht weil ihnen die Lektüre immer wichtiger war als Zufallsbekanntschaften, oder um im Jargon zu bleiben, als Seilschaften, die im stickigen akademischen Milieu, gleichgültig ob unter Herren- oder unter Frauenherrschaft, schon immer so wichtig waren. Wieder andere, aber nur wenige, sind hingegen so stark, eigensinnig und überzeugend, dass sie weitgehend ohne Protektion zum Ziel kamen, wohl weil sie An- und Abfahrtszeiten stets im Kopf hatten. Die Angehörigen dieser Gruppe habe ich immer am meisten bewundert.

Als habilitierter Romanist und Integrationslehrer habe ich mich längst von jenen Regionen entfernt, in denen ich meinem Leben ein glücklicheres Ziel zu geben hoffte. Der Zug fährt immer weiter und bringt mich an Ufer, die für mich nicht unbedingt neu, in jedem Fall aber ungewohnt und anstrengend sind. Meine Ziele werde ich nicht mehr erreichen, wohl aber die Gewissheit, dass mein Zug größere Distanzen zurücklegen musste als jene, die ihre Fahrgäste aufgrund eines Rufs direkt zum Ziel brachten. Ich musste häufig umsteigen, musste bei einer Vertretung immer gewahr bleiben, dass es vielleicht die letzte sein würde, bis es schließlich tatsächlich auch die letzte war. Und doch obwohl ich in eine Richtung fahre, in die ich niemals wollte, treffe ich doch Gesichter, die mir nicht fremd sind und mich an meine ursprünglichen Ziele erinnern.

Sonntag, 22. Juli 2018

2018-03: Nachdenken über Trump


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Jedermann beschäftigt sich mit Trump und seinen Allüren. Nachdem dieser auch in unseren Chroniken des letzten Jahres eine besondere Rolle gespielt hatte, soll hier somit wiederum von ihm die Rede sein. In den Medien erscheint der amerikanische Präsident geradezu als eine Art Ubu Roi, jener skandalösen Titelfigur aus dem gleichnamigen Stück von Alfred Jarry, die sich mit Gewalt und Lächerlichkeiten zum König von Polen erklärt. Die eigentliche Politik dieser Karikatur eines Monarchen (in der Moderne erscheinen alle Monarchen irgendwie lächerlich, weil nicht sie es sind, die ihre Krone tragen, sondern vielmehr selbst von dieser getragen werden) weicht gegenüber seinen zumeist beklagenswerten Charakterzügen zurück. Narzissmus, Überheblichkeit, Großspurigkeit und verletzte Eitelkeit, um nur einige wenige dieser missratenen Merkmale einer verschlissenen Persönlichkeit zu erwähnen, nehmen einen so dominanten Platz ein, dass man leicht darüber vergessen könnte, um wen es sich dabei handelt.
Es geht schließlich nicht um Familiengeschichten von Onkel Heinz und Tante Agathe, sondern um die res publica, d. h. um eben das, was unsere gemeinsame Sache sein müsste, die Politik. Diese Verkehrung der Politik in ein Boulevard kommt der Tendenz entgegen, die sich in der gesellschaftlichen Debatte, in den sozialen Medien breit macht. Statt sich auf die Suche nach politischen Lösungen zu begeben, begnügt man sich mit kluger Moral, eingedenk der Tatsache, dass die öffentlichen Dinge immer undurchschaubarer werden. Zum Spielball gegenläufiger Interessen geworden, zum Fachgebiet von Spezialisten und Technokraten, erscheint die Politik nicht mehr als Ort des Diskurses über notwendige Veränderungen in Staat und Gesellschaft. Was sich hier aber nicht mehr in genügendem Maße realisieren kann, muss auf die Moral ausweichen, auf die bessere natürlich. Denn an dieser haben natürlich alle ihren Anteil, jeden kann seine politisch korrekte Meinung von sich geben. Nicht selten geht man häufig von strengen Prinzipien aus, die man vor den Widrigkeiten des Lebens bewahren will, wohl wissend, dass das Leben die eigenen ehernen Gesetze relativiert.
Der amerikanische Präsident spielt in diesem Zusammenhang gerade deshalb eine probate Rolle, weil er mit seinen Skandalen, einfältigen Reden, konfusen Unterstellungen und Bezichtigungen an einer chronique scandaleuse schreibt, die beständig alle möglichen Tabus des öffentlichen Diskurses bricht. Was dabei aber außer Sichtweite gerät, ist wiederum die Politik selbst. Die Gründe, die zum Aufstieg Trumps führten, erlangen dabei eher ebenso wenig Aufmerksamkeit wie die Motive, die hinter seiner Politik stecken. Um es nochmals deutlich zu sagen. Herr Trump verdient alles andere als unsere Sympathie. Aber ebenso abwegig erscheint es, so einseitig der etablierten Politik zu folgen, die sich mit einer vermeintlich besseren Moral dem amerikanischen Ubu Roi entgegenstellt. Eine wirkliche Alternative wäre es freilich, in dessen Politik einen rationalen Kern zu suchen, der die Grenzen der bisher eher wenig zufrieden stellenden Antworten sprengt.
Nehmen wir Trumps Klagen über die Nachteile, die die amerikanische Wirtschaft beim Export ihrer Waren nach Übersee hat. Es ist allgemein bekannt, dass der europäische Zoll höhere Schranken aufstellt, als dies bei den Amerikanern der Fall ist. Natürlich könnten die reichen westlichen Länder einen Kompromiss schließen, um diese Schranken auf beiden Seiten zu senken und Handelskriege zu vermeiden. Doch gerade in dieser Hinsicht spielt der amerikanische Präsident, wohl eher unwillentlich, wenn nicht sogar unwissentlich, einen advocatus diaboli. Denn ist es nicht so, dass gerade die armen afrikanischen Länder über die ungerechten Verträge stöhnen, die ihnen von der Europäischen Union mit Druck und Zynismus aufgezwungen wurden? Gilt die Entrüstung der öffentlichen Moral dabei einzig und allein dem Flüchtlings- und Migrantenelend, das, soweit es Afrika betrifft, doch gerade Ergebnis einer zutiefst ungerechten Weltwirtschaftsordnung ist.
Der öffentliche Diskurs bleibt weitgehend bei deren Symptomen stehen, das menschliches Leid produziert. Er müsste aber viel stärker auf den Umstand eingehen, das Afrika einerseits unter dem freien Handel der Europäer leidet, andererseits aber eben auch Opfer einer europäischen Politik ist, die einen freien afrikanischen Handel nach Europa unterbindet. Man könnte aus der Politik Trumps insoweit Vorteile ziehen, indem man die sich daraus entwickelnde Ordnung dazu nutzt, um so neue gerechtere Regeln zu entwickeln, die die alleinige Handschrift immer gleicher Mächte nicht mehr akzeptiert. Aber ebendies würde einen Diskurs erfordern, der erst einmal zur Analyse neigt und erst dann eine entsprechende Moral generiert. Denn Moral kann Politik nicht ersetzen, sondern eben nur bedingen, eine Banalität, die sich unter heutigen Bedingungen fast wie eine Weisheit anmutet.
Wie viele andere Zeitgenossen tue ich mich schwer damit, den bislang herrschenden Eliten in Wirtschaft und Politik einfach Absolution zu erteilen. Denn immerhin sind sie es doch, die auch auf anderen Politikfeldern dazu beigetragen haben, dass sich Populisten in Europa und den USA breit machen konnten. Aus meiner Sicht ist der politische Kanon nicht eben dazu geeignet, das Gewicht dieser Herrschaften zu verringern. Es bedarf einer dritten Kraft, die sich aus allen Teilen des demokratischen Spektrums sammeln und über die alten ideologischen Gräben hinausgehen müsste.

Sonntag, 3. Juni 2018

2018-02: Repressive Toleranz als alte und neue Form der Gewalt



Mitte der 1960er Jahre sollte einer der großen Theoretiker der späteren Studentenbewegung, Herbert Marcuse, einen Begriff prägen, der auch zum Verständnis unserer heutigen Debatten von Nutzen sein kann: die repressive Toleranz. Dieser ehrenwerte Begriff, allerdings ohne das beigefügte Adjektiv, war schon ein Axiom der (französischen) Aufklärung geworden. Er setzte einen Kontrapunkt zu jenem Fanatismus, dessen Quellen und Auswirkungen stets auf Aberglauben und Obskurantismus zu verweisen pflegten. Eine von der absolutistischen Macht korrumpierte Kirche setzte weniger auf die Macht des Glaubens und der Ideen als auf eine Gewalt, die an die niedrigsten Instinkte der Massen appellierte. Der Justizskandal um die Hugenottenfamilie Calas, der Frankreich in den 1760er Jahre erschütterte, nahm Voltaire zum Anlass, um unmittelbar in die politischen Verhältnisse einzugreifen. Philosophen wie Rousseau machten die Toleranz zum Herzstück ihrer Zivilreligion.
In den modernen westlichen Demokratien avancierte der Begriff geradezu zur Grundlage pluralistischer Parteiensysteme. Doch eben diese trügerische Etablierung in die moderne Staatsräson war es, die Marcuse dazu bewogen hatte, von einer repressiven Seite der Toleranz zu sprechen. Denn auch demokratische Regierungen üben sich da in repressiven Praktiken, wo sie ihre Interessen, Grenzen, Vorteile und strategische Erwägungen gefährdet sehen, eben so, wie es auch Diktaturen zu tun pflegen, die sich dabei allerdings wenig um die Toleranz anderer Meinungen zu scheren pflegen. Im Namen der Demokratie werden allerdings gerade auch Maßnahmen legitimiert und verteidigt, die nicht unserer Toleranz bedürfen, sondern eher unseren Widerstand zu spüren bekommen sollten. So werden Bündnisse mit manifesten Tyranneien geschlossen, Lobbyvertretern mehr Gehör und Beachtung geschenkt als Argumenten und Kriege geführt, um den Status Quo einer zutiefst ungerechten Weltwirtschaftsordnung aufrecht zu erhalten, als die sie Papst Franziskus jüngst bezeichnet hatte.
Damit aber wird der Geist der Toleranz in sein Gegenteil verkehrt. Unter den heutigen Bedingungen der politischen und sprachlichen Korrektheit erhält der in sich paradox erscheinende Begriff einen weiteren Begründungszusammenhang. In den letzten 25 Jahren hat sich politisches und gesellschaftliches Klima durchgesetzt, das nicht wenige auch noch für denkbar links, liberal und freiheitlich halten. Nicht verhindert wurde damit das Entstehen einer Gegenöffentlichkeit, die sich zwar Versatzstücke linker Politik zunutze macht, dabei aber zugleich an reaktionäre Dämonen appelliert. Deren sprachliche Entgleisungen können aber nur als Provokationen gelten, die die rational nicht immer nachvollziehbaren Grenzen des Sagbaren sichtbar machen. Um es klar zu sagen: Rassistische und antisemitische Diffamierungen haben nichts mit einem rationalen Diskurs zu tun, der sich zurecht gegen approbierte Wortpirouetten und Wendungen wehrt. Darin liegt doch gerade der Respekt vor sozialen und kulturellen Differenzen, vor anderen Meinungen, vor anderen sexuellen Orientierungen. Dass es im öffentlichen Diskurs und Disput immer um die Sache geht, bei der Herabsetzungen politisch Andersdenkender im Gegensatz zum Begriff der Toleranz keinen Platz haben.
Aber es ist nicht einzusehen, dass wir die Räume jenseits von Beleidigungen und bloßen Provokationen ausloten und auch besetzen dürfen, selbst wenn hier das gewohnte Terrain der politischen und sprachlichen Korrektheit verlassen wird. Die neue repressive Toleranz greift überall da, wo streitbare Meinungen und Positionen Sprachregelungen zu verletzen drohen, die wie stillschweigende Vereinbarungen gehandelt werden. Diese erinnern an einen autoritären Chef, der ohne Absprache mit seinen Mitarbeitern Anordnungen trifft, die er aber ausdrücklich als Ergebnis von Vereinbarungen ausgibt.
In der Universität gilt eine problematische Genderpolitik, die Dozenten wie Studenten umständliche und unelegante Formulierungen aufnötigt. Ich erspare mir, an dieser Stelle Beispiele zu geben. Wer diese Regeln nicht einhält, gerät recht rasch in Verdacht, ein Chauvinist zu sein, Frauen zu verachten und Schwule zu diskriminieren. Abgesehen davon, dass ich jede Gesinnungsschnüffelei für falsch halte, frage ich mich doch, ob all jene Sprecher, die im Sinne der oben angezeigten Sprachregelung handeln, tatsächlich keine Chauvinisten sind, Frauen nicht verachten und Schwule nicht diskriminieren. Eine nickende sprachliche Maske ist aber nicht zwangsläufig das Gesicht eines Sprechers, der seine Überzeugungen in seinen Aussagen zum Ausdruck bringt. Die Befürworter sprachlicher Korrektheit unterliegen dem naiven Urteil, dass sich in der Sprache auch immer das Reale ausdrücken muss. Dass dies in der Hochschule geschieht, ist umso schmerzlicher, als doch gerade hier in Literatur- und Kulturwissenschaft eigentlich bessere Einsichten über die Moderne gewonnen wurden. Der öffentliche Diskurs wird so gegängelt oder gar unterbunden, so dass kreative Auseinandersetzungen im Rahmen angstfreier und offener Debatten entlang gesellschaftlicher Konfliktlinien kaum noch eine Chance haben. 

Besonders eher diskursunerfahrene Menschen fürchten sich, Positionen zu vertreten, die womöglich nicht immer dem erreichten Stand der Diskussion entsprechen oder lieb gewordene Steckenpferde des sogenannten Mainstreams zur Disposition stellen. Sie können so leicht Opfer von Provokateuren werden, die sie vereinnahmen und zum Spielball ihrer Interessen machen.

Repressive Toleranz macht sich aber auch an anderer Stelle im Wissenschaftsbetrieb bemerkbar. Wissenschaftliche Schulen und Theoriezusammenhänge sind häufig nicht Grundlagen eines notwendigen Austauschs und Dialogs, sondern stecken vielmehr Einfluss- und Interessenssphären ab, in denen immer noch Meisterdenker herrschen, ohne dass diese aber als solche angesprochen werden wollen. Wer in den Geisteswissenschaften Erfolg haben will, sollte möglichst weiblich und jung sein, um sich dabei dann einem theoretischen Zusammenhang anzuschließen, der es im wissenschaftlichen Diskurs zu etwas gebracht hat. Eigenständige oder gar eigenwillige Positionen haben da am allerwenigsten eine Chance, wenn sie von Männern geäußert werden, die der Genderpolitik (nicht so sehr der entsprechenden Theorie) auch noch skeptisch gegenüber treten. Diese haben dann als so ‚misogyn‘ und ‚phallozentrisch‘ zu gelten, dass ihnen kein Platz mehr an einer deutschen Hochschule beschieden sein kann.
Alles im allem. Unser gesellschaftlicher Diskurs ist alles andere als von Toleranz geprägt. In ihn fließen vielmehr jene Grenzen ein, die der freien Rede gesetzt sind. Denn die repressive Toleranz lässt es nicht zu, dass sich mit den besten Argumenten auch Innovationen durchsetzen, sondern dass mit den ohnehin Einflussreichen auch das Vorhersagbare siegt. Meister wollen ihre Ebenbilder produzieren, die indes nicht besser sein können als ihre Originale.

Sonntag, 25. März 2018

2018-1 Zivilcourage und Gemeinschaftssinn im Film - Das Schweigende Klassenzimmer



Vor einigen Wochen habe ich mit einem guten Freund dem neuen deutschen Spielfilm Das schweigende Klassenzimmer gesehen, das der Regisseur Lars Kraume nach dem gleichnamigen Sachbuch von Dietrich Garstka gedreht hatte. So belastend uns deutsche Geschichte auch erscheinend mag, so unerschöpflich ist sie doch auch als Quelle von Geschichten. Besonders lohnend erweist sie sich, wenn nicht nur prominente oder unbekannte Schurken auf die Leinwand kommen, sondern auch kleine und große Helden des Alltags, die um ihr eigenes Überleben, aber mindestens ebenso um das Leben anderer kämpften. Ging es schon in dem Liebesdrama Der Rote Kakadu, in dem Dominik Graf 2006 Regie geführt hatte, um Zivilcourage, so zeigte sich dieses Motiv drei Jahre später in Florian Gallenbergers Film John Rabe noch unumwundener und zuletzt in Claus Räfles Film Die Unsichtbaren - Wir wollen leben aus dem letzten Jahr am deutlichsten. Nicht zu vergessen ist in dieser Hinsicht auch die Dreiländerproduktion (D, F und GB) in der Regie von Vinzent Perez, die den Roman Falladas Jeder stirbt für sich allein neu verfilmte. In der Kunst erkennen wir die Zeichen der Zeit am allerbesten. Die Partitur unserer Zeit zeigt sich in der Kunst, in diesem Fall der Filmkunst deutlicher als in einem Alltag, in dem uns der Blick verstellt ist.
In diesen und in zahlreichen anderen deutschen Filmen mit Bezügen zur deutschen Geschichte gilt es nicht weniger um die Frage, ob das allgemeine Bild von den Deutschen als Volk der Mitläufer tatsächlich dem Urteil zahlloser Geschichten standhält. Die so häufig missbrauchte Kategorie des Helden erhält hier eine völlig andere Bedeutung, tritt der Held doch zumeist als Einzelkämpfer, wenn überhaupt, mit nur wenigen Gefährten in Erscheinung. Helden sind nicht die Protagonisten von Armeen, die das Vaterland gegen einen äußeren Feind schützen, sondern einzelne und nicht selten auch einsame Menschen, die sich im aufrechten Gang für ihre Heimat, ihre Familie und die ihrigen üben. Oder für jene, die sie zu den ihrigen zählen. Als Sophie Scholl von Gestapobeamten befragt wurde, ob sie erneut so handeln würde, entgegnete sie: „Ja, weil ich es für das Richtige für mein Volk halte.“ Es besteht kein Zweifel, dass es hier um das Gewissen von Menschen ging, für die es eine Schande war, dass das gesamte Gemeinwesen in die kollektive Haftumg für Staatsverbrechen hineingezogen wurde.  Autokratien und Diktatoren war es stets darum getan, ihre Macht vertikal und damit antimodern zu organisieren, dabei aber die Verantwortung für die Folgen ihrer Politik so zu verteilen, dass diese möglichst viele über die exekutive Gewalt hinaus zu tragen hatten. Möglichst viele sollten über den engeren Täterkreis hinaus haftbar gemacht und damit schuldig werden. Dabei hatten es jene, die nicht unmittelbar an Verbrechen beteiligt waren, stets ungleich schwerer, ihr Gewissen von einer ungleich abstrakteren Schuld zu reinigen. Immer plagte sie mit dem Gewissenskonflikt auch die Frage, was sie denn wohl unter ihren Umständen hätten tun können, um Verbrechen zu verhindern. Diese Frage, deren Antwort auch spätere und damit freiere Generationen schuldig bleiben mussten, lässt sich leicht stellen, aber oft kaum beantworten. Häufig belegen sie, wie am Beispiel der Geschwister Scholl, einen heldenhaften Widerstand im zivilen Leben, ohne allerdings in der Lage zu sein, Verbrechen gleich welcher Art und Größe tatsächlich  verhindern zu können. Aber natürlich stellt dieser aufrechte Gang nicht nur unter Beweis, dass selbst unter einer noch so gewalttätigen Diktatur ein offenes Wort, wenn auch um den Preis des eigenen Lebens, möglich ist. Er zeigt auch, dass hier im Namen einer schweigenden Minderheit zur Sprache gebracht wird, was auch zur  Tradition einer res publica in Deutschland gehört.
Auch im jüngsten Film Das schweigende Klassenzimmer geht es um einen Akt zivilen Ungehorsam gegen einem Staat, der sich geradezu zum antifaschistischen Vermächtnis der Geschwister Scholl bekannte. In der DDR gehörte das Aufbegehren gegen die Nazidiktatur zur besten deutschen Tradition, für die allerdings in den Grenzen des neuen Staates keine Verwendung mehr war. Überhaupt galt Zivilcourage den Machthabern als  Ausdruck eines individualistischen Bewusstseins, das als ungeeignetes Mittel in den Klassenkämpfen der Zeit erscheinen musste. Im Mittelpunkt der Handlung steht eine ostdeutsche Abiturklasse, die sich anlässlich des Ungarischen Volksaufstands 1956 zu einer Schweigeminute für die Opfer im Unterricht entscheidet. Auf diese relativ zaghafte Solidaritätsbekundung reagiert die sozialistische Staatsmacht mit einer unverhältnismäßigen Härte, mit der weder die Schüler noch ihre Eltern oder die Schulleitung gerechnet haben. Doch mit dieser Reaktion ist nun gewiss, dass eigenständiges Denken oder gar das Bekenntnis zu einem eigenen Standpunkt gänzlich unerwünscht sind. Interessant ist dabei auch, wie ein Staatswesen, das auf kollektive Gemütsverfassungen setzt, doch mit den Interessen, Ambitionen und Ängsten des einzelnen Menschen spielt, wie Denunziation als Mittel der allumfassenden Kontrolle und als Überwindung oppositioneller Regungen eingesetzt wird. Der Tenor der Lieder, etwa ein FDJ-Aufbaulied aus der Feder Bert Brechts, ist so ganz anders als jene Wirklichkeit der DDR im Jahre 1956, in der Kadavergehorsam aus alten Zeiten nach wie vor an der Tagesordnung ist:
Besser als gerührt sein ist: sich rühren,
denn kein Führer führt aus dem Salat!
Selber werden wir uns endlich führen,
weg der alte, her der neue Staat!
Fort mit den Trümmern…
Jede noch so um das allgemeine Menschheitsglück besorgte Diktatur appelliert aus Menschkenntnis (nicht zuletzt der eigenen Funktionärskaste) stets an den Egoismus des einzelnen, der ihr kontrollierbarer erscheint als individuelles Aufbegehren. So wird selbst ein Minister in der Klasse vorstellig, um zu erzwingen, dass diese den Namen der Rädelsführer bekannt gibt, der den konterrevolutionären Aufstand angezettelt hat. Besonders brutal geht man mit Erik um, der mit Stolz auf seinen Vater, einem im KZ gepeinigten und verstorbenen Rotfrontkämpfer zurückblickt. Als man ihn aber damit erpresst, die Wahrheit über dessen ‚mangelnde Standfestigkeit‘ gegenüber den Nazis in der Presse preiszugeben und damit den schönen Schein des antifaschistischen Mythos zu zerstören, gerät die Situation außer Kontrolle. Letzten Ende nehmen sich die Schüler ihr Recht, das Abitur erfolgreich abzuschließen, im Westen freilich, weil die sozialistische Staatsmacht deren uneingeschränkte Solidarität mit der Relegation der gesamten Klasse bestraft. Die fragwürdige Moral besteht also darin, dass es nur dann sinnvoll ist standfest zu sein, wenn eine höhere Macht, nicht aber das eigene Gewissen diesen Sinn definiert.

Man könnte nun die Frage stellen, was für ein Sinn ein solcher Film in unseren demokratischen Verhältnissen haben könnte. Wer eine 'demokratische Ordnung' aber ernst nimmt, weiß, dass diese nicht alles ordnet, eben weil alles andere 'totalitär' wäre. Dass die Macht nicht immer mit jedermann ist, scheint ebenso gewiss wie der Umstand, dass schon ein offenes Wort bei uns auch verheerende Konsequenzen für den mutigen Sprecher nach sich ziehen kann. Demokratie ist für nicht wenige Menschen eine Höflichkeitsfloskel, die nach dem alltäglichen Befinden eines anderen Menschen fragt, ohne aber tatsächlich genau wissen zu wollen, wie es um diesen steht. Natürlich wollen die meisten Menschen irgendwie zu den Anhängern der Demokratie gezählt werden, aber nur wenige sind tatsächlich daran interessiert, wegen allgemeiner demokratischer Verfahrensfragen ins Unrecht zu geraten. Manche betrachten es gar als Skandalon, wenn ihre Zeitgenossen auf ihrer Meinung bestehen und diese auch noch offen kundtun. Und doch ist gerade in unserer Zeit, in die Demokratie angesichts zunehmender autokratischer Regime in der Welt und im sogenannten freien Westen selbst Bewährungsproben zu bestehen hat, Zivilcourage mehr denn je notwendig. Gerade Demokratie lebt von Zivilcourage und zivilem Aufbegehren, wie es die jungen Leute heute auf Ihren Demonstrationen in Washington gegen die Waffenlobby unter Beweis stellen.