Ein Versuch, mir meine Trauer, Resignation und Wut von der Seele zu schreiben, um nicht daran zu zerbrechen

Mittwoch, 28. August 2019

04-2019: État d’esprit: Betrachtungen eines politischen Menschen zur Situation unserer Zeit


1. Grenzen der Zeit

Es wird immer wieder gesagt, dass wir in einer von Krisen und Kriegen geschüttelten Zeit leben. Häufig ist noch zu hören, dass ausgerechnet jetzt die Weichen für die Zukunft gestellt werden, vielleicht könnte man hinzufügen, dass unsere Gegenwart noch lange in der Zukunft fortwirken wird, wie ein leuchtender Stern, der als Planet längst verglommen ist. Ich habe es aber immer für problematisch gehalten, einer womöglich unabgeschlossenen Epoche eine dominante Signatur zuzuschreiben und diese dann auch noch in einen wohlklingenden Namen zu kleiden. Erst recht gilt dies wohl für eine Zeit, die die unsrige ist. Denn wann endet sie? Ginge sie mit unserem Tod zu Ende, so könnten die Nachgeborenen den Anfang einer neuen Zeit wohl kaum noch ansetzen, weil letztlich mit dem Ableben eines Menschen immer auch eine komplette Welt untergeht.
Doch ohne Frage gibt es Epochenbrüche, die so offensichtlich sind wie jener, der sich mit der Kanonade von Valmy am 20. September 1794 geräuschvoll vom alten Europa verabschiedete. Der Geheime Rat Goethe, der bei der Schlacht zwischen dem revolutionären Frankreich und Preußen als Begleiter seines Herzogs zugegen war, belegte dies mit dem einprägsamen Satz, dass von hier und heute eine neue Epoche der Weltgeschichte ausgehe, und die Augenzeugen könnten sagen, sie seien dabei gewesen. Auch der Sturm auf Winterpalais im Oktober 1917 oder der Fall der Berliner Mauer im November 1989 markierten ähnliche Brüche, und das Leben der meisten Menschen ging weiter. Es war vorher gestorben worden und neue Erdenbürger erblickten das Licht der Welt. Und das Leben anderer sollte nach dem Finale des Kalten Krieges zu seinem Ende kommen, während auch es anderen Menschen gegeben wurde, denen es womöglich schwerfiel, sich Berlin, Deutschland und Europa noch geteilt vorstellen zu können.

2. Zur Bedeutung individueller Lebensgestaltung

2.1 Der Individualismus als Lebensgefühl unserer Zeit

Zu den Signaturen, die unsere Zeit bestimmen, gehört aus meiner Sicht ein individualistisches Lebensgefühl, das keineswegs neuartig ist und deshalb umso mehr als besonderes Kennzeichen gerade unserer Gegenwart umstritten sein dürfte. Doch ein Vergleich mit den späten 1960er und 1970er Jahren macht sogleich klar, dass der Individualismus seinerzeit zumeist anders in der öffentlichen Meinung empfunden wurde als dies heute der Fall ist. Sicherlich fühlten sich konservative Geister schon immer von den Grenzüberschreitungen ihrer Mitmenschen gestört. Der aufkommende Feminismus, die gerade entstehende Schwulenbewegung, vor allem die Widersetzlichkeit und Aufsässigkeit junger Leute, die in Wohngemeinschaften zusammenlebten und sich gar noch revolutionär gebärdeten, wurden vielfach als Provokation empfunden und nicht zuletzt auch einem anarchischen individualistischen Treiben zugeschrieben. Und dennoch galt Individualismus, von linksradikaler Phraseologie oder reaktionärer Gebärde abgesehen, zumeist als etwas Emanzipatorisches und daher auch als gesellschaftliche Notwendigkeit. Die westlichen Gesellschaften begannen sich so rasch zu ändern, weil sich viele Menschen in Familie, Freundeskreisen, aber auch in staatlichen und wirtschaftlichen Zusammenhängen aus einer ihnen spürbar gewordenen Lebensenge befreiten. Die christlichen Kirchen taten sich freilich schwer damit, weil sie im Prinzip einer Gemeinde dachten, der sich der einzelne im Sinne der Hirtenmoral unterzuordnen hatten.
Noch in dieser Zeit begannen sich aber Intellektuelle wie Pier Paolo Pasolini (Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft. Berlin: Wagenbach, 1981), ob die lange Haare noch ein Zeichen von Emanzipation sei oder nicht doch ein modischer Trend, dem jedermann stehe. Er entdeckte das Universum des bäuerlichen Lebens und damit jene Solidarität, die dem Trotz gegen eine widrige Natur und eine nicht minder feindliche Regierung entsprang. Der Individualismus wurde aus seiner Sicht zu einer modischen Zeiterscheinung, der man sich zu beugen hatte, wollte man nicht als unmodern oder reaktionär gelten. Und gerade heute gewinnt sein Urteil an Aktualität.

2.2 Ein zunehmend toxischer Individualismus

Denn jener Individualismus, mit dem wir auf Schritt und Tritt Bekanntschaft machen müssen, hat mitunter grausame und hedonistischen Züge erhalten, voll von Selbstbezug und masslosem Egoismus. In unerträglichen, ideologisch überfrachteten Diskussionen schleicht sich immer wieder jene sprichwörtliche Unduldsamkeit ein, die ausschliesslich die eigene Sprache versteht, um die der anderen mehr bewusst als unbewusst misszuverstehen. Ob im Strassenverkehr, wo neue elektrische Roller, gerade hier in Berlin-Mitte, Bürgersteige bevölkern und dabei Passanten geflissentlich übersehen, ob am Arbeitsplatz oder in schulischen Einrichtungen, wo Mobbing inzwischen zum Alltag gehört, überall geht es darum, dem anderen sein Gesicht als ein möglichst hasserfülltes und womöglich gewalttätiges zu zeigen, so als könne die eigene Individualität nur dann ihre Wirkung hinterlassen, wenn sie als ausschließlich aggressiver Gestus wahrgenommen wird.
In der Politik sind nicht nur die sogenannten Volksparteien in eine Krise getreten; auch ein System des Ausgleichs und des Kompromisses droht uns abhanden zu kommen und der Unnachgiebigkeit neuer Akteure Platz zu machen. Dieses Land der Mitte war, historisch gesehen, schon immer ein fruchtbarer Boden für diese polemische Saat und könnte es im Namen von Prinzipienreiterei und Unduldsamkeit erneut werden. Und sicher ist diese verhängnisvolle Entwicklung, wie wir sie mit der Präsidentschaft Donald Trumps heraufziehen sahen (vgl. 2018-03), auch jenem unterschiedslosen Geplapper liberaler Eliten und Amtsträger zuzuschreiben, die ihren Diskurs einzig und allein nach den Opportunitäten des Alltags ausrichteten und dabei die vom Niedergang bedrohten Mittelschichten vernachlässigten.

3. Die bürgerlichen Mittelklassen als Träger des Individualismus

3.1 Die Zerstörung und Selbstzerstörung der bürgerlichen Mittelklassen

Es wäre trivial, diese Zeit wiederum in die Nähe der frühen 1930er Jahre zu rücken. Aber in einem Punkt erscheint dies zumindest angemessen. Wie vor den Hitlerjahren handelt es sich heute wiederum um eine bürgerliche Mittelklasse, die mit wachsenden Sorgen in einen wirtschaftlichen Abgrund blickt. Denn gerade sie ist es heute wie damals, die ihre angeblich so ehernen Prinzipien zugunsten kurzfristiger Vorteile in die Gosse wirft, indem sie diese aber fortwährend als blosse Formeln an ihre Kinder und Kindeskinder weitergibt. In seiner Autobiografie Ich nicht. Erinnerungen an eine Kindheit und Jugend. (Hamburg: Rowohlt 2006, S. 343-344) beschreibt Joachim Fest diese Zeit so:
Zu viele gesellschaftlichen Mächte hatten an der Zerstörung dieser [bürgerlichen] Welt mitgewirkt, die politische Rechte ebenso wie die Linke, die Kunst, die Literatur, die Jugendbewegung und andere. Hitler hat im Grunde nur weggeräumt, was an Resten noch herumgestanden hatte. Er war ein Revolutionär. Aber indem er sich ein bürgerliches Aussehen zu geben verstand, hat er die hohlen Fassaden des Bürgertums mit Hilfe der Bürger selbst zugrunde gerichtet: Das Verlangen, ihm ein Ende zu machen, war übermächtig. […] Im Innern war diese Schicht lange morsch; insofern bin ich nach den Grundsätzen einer abgelebten Ordnung erzogen worden. Sie hat mir ihre Regeln und ihre Traditionen bis hin zu ihrem Gedichtekanon vermacht. Das hat mich etwas von der Zeit entfernt; zugleich hat diese Ordnung mir ein Stück festen Grundes verschafft, der mir in den folgenden Jahren manchen Halt vermittelte.
Unwiderruflich vorbei ist zwar die Hitlerei, nicht jedoch, was in den 1920er und 1930er Jahren zu ihr führte, aber sicherlich heute eine andere Barbarei hervorbringen mag, die mit der Zeit auch eine weitaus internationale Dimension annehmen wird. Das Problem, mit dem wir damals wie heute konfrontiert sind, besteht im ambivalenten Status der bürgerlichen Mittelklassen. Diese sind seit ihrer Entstehung stets von hybrider Natur, d. h. sie rekrutierten sich bereits im 19. Jahrhundert, im Zeitalter des Bürgers, aus verschiedenen Schichten, aus Adel und Bauerntum, um dann in den Städten zu einer eigenen, aber auf sozialer Ebene immer durchlässigen Kategorie zu werden. Die Comédie HumaineHonoré de Balzacs, aber auch der englische Gesellschaftsroman bieten hinreichende Belege für diese Annahme.

3.2 Das Bürgertum als hybride Klasse

Heute gilt dies auch für Einwanderer aus entfernten Regionen der Welt, denen die deutsche Sprache und Kultur bis dato noch unbekannt sind. Ihren besten Zugang zu unserer Gesellschaft finden sie über die Mittelschichten, wenn sie selbst als Händler, Intellektuelle, Lehrer und Träger freier Berufe (Ärzte, Rechtsanwälte) die Mitte der Gesellschaft erreichen. Denn bürgerlich zu sein, bedeutet auch, sich im eigenen Selbstverständnis und im sozialen Leben als Individuum zu inszenieren. Zugleich haben die Mittelschichten aber auch jene von Fest beschriebenen Traditionen entwickelt, die zumindest im nördlichen Deutschland aus preussisch-protestantischen Beständen herrühren und zuweilen auch gern im Gleichschritt marschierten.
In diesem Sinn war das Bürgertum, vor allem in seinen freien Berufen, in seinen Akademikern, in seinem Werte- und Gedichtekanon sowie seinen Bildungsinstitutionen auch eine Art Korporation. Diese kollektive Zuschreibung rivalisierte demnach mit einer individualistischen Lebenshaltung, die im Zuge von Moderne und Postmoderne zusehends an Boden gewann. Denn jener Prozess, den Marx bereits auf dem Höhepunkt der bürgerlichen Revolution erkannt haben will („Die Bourgeoisie hat alle bisher ehrwürdigen und mit frommer Scheu betrachteten Tätigkeiten ihres Heiligenscheins entkleidet. Sie hat den Arzt, den Juristen, den Pfaffen, den Poeten, den Mann der Wissenschaft in ihre bezahlten Lohnarbeiter verwandelt.“), nimmt in unserer Zeit weiter Fahrt auf.
Paradoxerweise sind es in den 1960er und 1970er Jahren gerade jene Akteure fūr die weitere Selbstauflösung des Bürgertums in ihrer korporativen Erscheinung zuständig, die selbst bürgerlicher Herkunft sind. Und noch paradoxer will es erscheinen, dass sich dieser Prozess just in jenen linken Gruppen reproduziert, die selbst zumeist aus dem Bürgertum stammen. Den zunächst emanzipatorischen Anliegen, die seinerzeit zahlreiche Studenten zum Protest gegen ein autoritäres und scheinheiliges Bürgertum auf die Strasse brachten, folgte ein merkwürdiger weitaus autoritärerer Karneval. In diesem Sinne ersetzten sie den Bürger- durch den Proletenkult, um sich aus Scham vor der eigenen Herkunft zu einem neuen Kollektiv zu bekennen, einer revolutionären Arbeiterklasse. Stalin, allen voran Mao Zedong galten ihnen als weit weniger autoritär als Adenauer, stiegen diese in ihren Augen doch zu Ikonen gesellschaftlicher und kultureller Befreiung auf. Dass Derartiges geschehen konnte, hatte mit dem moralischen Verfall der Väter- und Großvätergeneration zu tun, die sich weidlich über die Gewalttaten ihrer Söhne und Töchter echauffierten, aber ihre eigenen Gewalttaten verschwiegen und dabei noch grausige Kriege wie jenen in Vietnam zum Schutz der Freien Welt rechtfertigten.

4. Der Normalisierungszwang im Namen der Mittelklassen

IMG_3406

4.1. Emanzipation vs. Anpassung und Uniformität

Und damit schliesst sich der Kreis. Stehen die Mittelklassen einerseits für einen bürgerlichen Individualismus, der gerade vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen Weltmarktgesellschaft im Hedonismus der Warenwelt zur höchsten Entfaltung kommt, so kann der Rekurs auf kollektive Werte auch immer zum Kontrapunkt werden. Vor der NS-Herrschaft gab das Bürgertum mehrheitlich seine Wertvorstellungen auf, um sich in die vermeintliche Volksgemeinschaft einzureihen. Der klassische Wunsch, sich durch humanistische Bildung oder bestimmte Wertvorstellungen vom gemeinen Volk abzuheben, trat vor dem Wunsch nach persönlichem Wohlstand zurück. Insoweit stehen die späten 1960er und 1970er Jahren mit ihrem gesellschaftlich erstarkenden Individualismus in einem asymmetrischen Verhältnis zueinander zu jenem verordneten Nationalkollektiv in der Nazizeit. Doch der Wunsch des Bürgers nach wirtschaftlichem Aufschwung war am Anfang de 1930er Jahre nach einer gewaltigen Rezession ebenso spürbar wie im Zuge der Studentenbewegung, nachdem sich erste Risse im westdeutschen Wirtschaftswunderland gezeigt hatten.
Die wirtschaftlichen und politischen Konjunkturen können in den Mittelklassen, grob umrissen, zwei gegensätzliche Tendenzen befördern, ein Festhalten an der eigenen Autonomie gegenüber anderen Klassen und Schichten der Bevölkerung einerseits oder die Unterwerfung unter die bloßen Verhältnisse des Weltmarktes, aber auch unter einen charismatischen Führer, in dessen Hände man die Geschicke der Nation gibt. Gibt das Bürgertum seine eigenen Werte preis unter dem Vorwand, nur unter diesen Bedingungen seien diese zu verteidigen, kann eine demokratische Ordnung in Gefahr geraten, können autoritäre Zustände mit autokratischen Folgen entstehen. Es ist wie heute aber auch eine andere Option denkbar.

4.2. Transformationen der liberalen Gesellschaft

Die Selbstaufgabe der Mittelklassen kann im Ergebnis auch nach jenem Modell erfolgen, wie wir es im Zuge der 1968er beschrieben haben. Was zunächst mit einem emanzipatorischem Erwachen wie ein frischer Frühlingswind eine in überlebten Werten befangene Gesellschaft durchschüttelte, ging in ihrer dominanten Variante in einen beispiellosen Hedonismus und narzisstischen Verirrungen über, was bis heute anhält. Dabei geht die Tendenz zur Befreiung glücklicherweise nicht ganz verloren.
Die Bewegung der Frauen und der Schwulen haben viel dazu beigetragen, ‚die alten Mumien vom Podest‘ zu reißen, auch wenn einem Teil des Feminismus recht reduktive Vorstellungen von Emanzipation innewohnen. Die Debatten über den sogenannten Gender Main Stream, die nicht zuletzt auch reaktionäre Geister auf den Plan rufen, zeigen, dass sich eine Kulturelite nur allzu gerne im Sprachlich-Symbolischen aufhält, ohne das häufig viel diffusere Reale überhaupt zu erfassen. Kaum noch wahrnehmbar ist indes dabei jene den emanzipatorischen Wandlungen der 1960er Jahre folgende linksradikale Variante, die ebenfalls dazu beitrug, noch verbliebenen bürgerlichen Konventionen den Kampf anzusagen. Auch sie implizierte letztendlich ein Abtreten der Mittelklassen, die sich drappiert mit den Symbolen der Befreiung auf einen permissiven Standort zurückzogen. Doch darin waren ihnen auch andere Klassen und Schichten gleich, die sich allesamt einem Normalisierungszwang unterwarfen. Lassen wir an dieser Stelle wiederum Pier Paolo Pasolini zu Wort kommen, der in seiner Kritik an der liberalen Gesellschaft Michel Foucault doch sehr nahe kommt.
Kein faschistischer Zentralismus“, meint Pasolini, „hat das geschafft, was der Zentralismus der Konsumgesellschaft geschafft hat. Der Faschismus propagierte ein reaktionäres und monumentales Modell, das sich jedoch real nie durchzusetzen vermochte. Die verschiedenen Sonderkulturen (die der Bauern, der Subproletarier, der Arbeiter) richteten sich vielmehr weiter unbeirrbar nach ihren überlieferten Modellen. Die Repression ging nur so weit, wie es zur Sicherung des verbalen Konsenses erforderlich war. Heute dagegen ist der vom Zentrum geforderte Konsens zu den herrschenden Modellen bedingungslos und total. Die alten kulturellen Modelle werden verleugnet. […]
Mit Hilfe des Fernsehens hat das Zentrum das Ganze Land, das historisch außerordentlich vielfältig und reich an originären Kulturen war, seinem Bilde angeglichen. Ein Prozess der Nivellierung hat begonnen, der alles Authentische und Besondere vernichtet. Das Zentrum erhob seine Modelle zu Normen der Industrialisierung, die sich nicht mehr damit zufrieden geben, dass der ‚Mensch konsumiert‘, sondern mit dem Anspruch auftreten, es dürfe keine andere Ideologie als die des Konsums geben.

4.3 Die in Unordnung geratenen Seinsweisen der Menschen

In dieser Zeit mit weltweit zunehmenden autokratischen Tendenzen stellt sich aus heutiger Sicht die Frage, ob diese nicht auf jenen toxischen Individualismus reagieren, mit dem sich ein notwendiges Gleichgewicht zwischen dem Selbstsein(dem Menschen in seinen Eigeninteressen und Befindlichkeiten), dem Mitsein (dem Menschen als gesellschaftliches Wesen) und dem Gegebensein (die Natur, Gott) verloren hat. Eingedenk der klimatischen Verwüstungen, die vielfach in der Öffentlichkeit wie eine Heimsuchung empfunden werden, erscheint Letzteres heute zwar in einem gänzlich anderen Licht. Die jungen Leute, die freitags aus Sorge um ihre Zukunft auf die Straße gehen, spüren selbst angesichts ihres eigenen Selfie-Individualismus, dass dieses Gefüge nicht in Ordnung ist. Denn wenn wir Pasolini richtig verstehen, dann kann die Selbstaufgabe der Mittelklassen auch darin bestehen, dass diese ihren Konsumismus, Hedonismus und ihren zur Schau getragenen Liberalismus auf den Ruinen ihrer einstigen Wertvorstellungen und Konventionen gesellschaftsfähig machen. 
Das Paradoxe an dieser Entwicklung lässt sich nur schwer beschreiben. Sicherlich, es gibt die in sozialer Hinsicht Abgehängten, seien es Individuen, Städte, Regionen oder ganze Länder. Sie brauchen ihre Ohren nicht mehr vor den „Zukunfts-Sirenen des Marktes“ (Nietzsche) zu verstopfen, weil diese ohnehin schon lange keine Wirkumg mehr auf sie ausüben. Nicht nur sie wenden sich aber zu Recht oder zu Unrecht anderen Sirenen zu, die lautstark auf sich aufmerksam machen und ihre Zuhörer ins Verhängnis führen. Aber auch in der Mitte der Gesellschaft fühlen sich Menschen durch das rücksichtslose, zuweilen übergriffige Verhalten ihrer Mitmenschen belästigt oder gar bedroht, obwohl es doch sie selbst sind, die sich auf ähnliche Weise verhalten können. Auf allen Ebenen wird man gewahr, wie sehr sich die Relationen zwischen den Seinsformen verschoben haben. Der einstigen Einseitigkeit, jener alten Uniformität platter Gehorsamsregeln, ist eine nicht minder banale Monotonie unterschiedslosen Geplappers gewichen, von dem Neil Postman schon in den 1980er Jahren gesprochen hatte. Dabei ist unverkennbar, wie Foucault es einmal irgendwo formulierte, dass das Ungesagte weitaus mehr über den gesellschaftlichen Diskurs aussagt als das, was sich eigentlich in Wort, Bild und Ton darstellt.
Demokratie bedeutet aber, im Diskurs wieder richtig zu rücken, was eben durch diesen in Verhalten und Erziehung in Unordnung geraten ist. Es ist aber nicht sicher, ob diese Strategie noch verfangen kann. Zu sehr drückt nicht nur auf nationaler, sondern auch auf internationaler Ebene jene Versuchung des charismatischen oder wenigstens doch mächtigen Führers, der vermeintlich heilt, was in der sozialen Wirklichkeit zerbrochen wurde.

image-13

5. Bilanz

Es bedeutet aber auch, dass geltende Koordinaten einer Überprüfung bedürfen. Was ‚rechts‘ und ‚links‘ ist, hat sich nicht nur an diskursiven Traditionen zu orientieren. Dass das eine bisher zumeist beschränkter Nationalismus und aggressiver Rassismus bedeutet, ist zwar heute immer noch richtig. Ebenso auch dass das andere sich mit Weltoffenheit und Toleranz verbindet. Und doch können wir diese sehr ins Allgemeine gehaltene Aussage nicht mehr ungeteilt übernehmen, zumal beide Traditionen von Verbrechen gezeichnet sind, die in ihrem Namen begangen wurden. Was ‚Faschismus‘ heißt, ist zwar nicht immer genau definiert, doch wenigstens in Bildern hinreichend bekannt. Was ‚Antifaschismus‘ besagt, hat noch diffusere Bilder hervorgebracht, die des Aufstands im jüdischen Ghetto, die der französischen Résistance, der Partisanen in den besetzten Gebieten, aber auch jener Terror, der im Namen der Befreiung gegen Antifaschisten, Juden und Christen, selbst gegen Kommunisten und parteilose Linke wüten sollte. An vermeintlich charismatischen Führern hat es auf beiden Seiten nicht gemangelt. Doch Lichtalben haben sich fast ausschließlich als Nachtgestalten zu erkennen gegeben. Die Traditionen sind verbaut, auch wenn ich mit den meisten Antifaschisten sympathisiere, die für eine gute Sache zu kämpfen glauben und es zumeist auch tun.
Was heute gerade im Zeichen des Weltmarktes so verheißungsvoll erscheint, kann nicht nur neue einseitige Abhängigkeiten wie im Kolonialzeitalter produzieren. Es kann auch im Inneren der Regionen und Nationen Stimmungs- und Bewusstseinslagen hervorbringen, die genau deren Selbstisolation oder gar Rassenhochmut bewirken. Zugleich ist aber auch denkbar, dass diese ihre Autonomie gegenüber dem Weltmarkt verteidigen, dass sie sich einem als falsch erkannten Weg verweigern, wie dies etwa beim Staat Kalifornien der Fall ist, der sich von der verhängnisvollen Klimapolitik der jetzigen US-amerikanischen Zentralregierung abgrenzt. Vor dem Hintergrund des Brexit rückt die so lang umkämpfte nationale Einheit Irlands ebenso in den Bereich des Möglichen wie die Unabhängigkeit Schottlands. 
Nicht weniger stellt sich die Frage, was denn geschähe, wenn sich ein einstmals frei gewählter Präsident der Europäischen Kommission auf ähnlich politische Weise gebärdete wie die Herren Orban oder Salvini. Wir sprachen von Stimmungs- und Bewusstseinslagen. Warum sollte in der Europäischen Union nicht möglich sein, was im Superstaat USA längst Realität geworden ist, wo der Präsident Teile seines Volkes gegeneinander ausspielt, hohe Grenzzäune errichten will und Einwanderer tutti quanti aufs Übelste diffamiert und schikaniert. 
Wie die festen Milieus in der Gesellschaft schwinden, so müssen auch diskursive Traditionen aus ihrer Genese und Entwicklung bewertet werden. Was ‚rückschrittlich‘ oder ‚progressiv‘ ist, muss sich aufgrund heutiger Erfahrungen aus den jeweiligen Kontexten ergeben. ‚Individualismus‘, seines Zeichens als Erbschaft unserer Kultur ein Äquivalent für das erstrebte Ziel eigenständigen Denkens und Handels, ist heute kein unschuldiges Kind mehr. Ebensowenig ist gesellschaftlicher Zusammenhang und soziale Solidarität nicht mehr unbedingt mit einen Zwangskollektiv zu verwechseln, das Dissens der Meinungen und Differenz der Lebensauffassungen nicht zuließe. Auch Geschichte bedeutet, neue Erfahrungen zu machen, ohne in alte Traditionen zurückfallen zu müssen.