Ein Versuch, mir meine Trauer, Resignation und Wut von der Seele zu schreiben, um nicht daran zu zerbrechen

Donnerstag, 26. Dezember 2019

09-2019 Die vereinten Regionen und Nationen von Europa. Europäische Projektionen (Entwurf eines Essays)



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1. Historische Voraussetzungen


Historisch gesehen war Europa stets ein Kampfplatz widerstreitender Parteien und zugleich Ausgangspunkt weltweiter Eroberungen, welche die Globalisierung des 20. und 21. Jahrhunderts überhaupt erst ermöglichen sollten. Deutschland und Europa teilten sich allerdings über Jahrhunderte einen Status als bloße geographische Erscheinung, nicht als politische Gemeinschaft, die zu einer kollektiven Erzählung fähig gewesen wäre.

Während sich in Deutschland über lange Zeit verschiedene Stämme oder Regionen hervortaten, sind es in Europa alte Nationalstaaten wie Frankreich, England oder Portugal gewesen, die auf alte Geschichten zurückblicken konnten. Aber es spricht für die absolute Diversität historischer Entwicklungen, dass es sich gerade in Osteuropa anders verhält, weil dort große Imperien wie Russland, das Osmanische Reich und die Habsburger Monarchie ihren Sitz hatten.

Entgegen diesen Inkongruenzen haben sich die EU-Eliten darauf geeinigt, in der politischen Organisationsform des Nationalstaats den missliebigen Schatten ihrer eigenen Ziele auszumachen. Die gängige Geschichtsschreibung, die dem Leser in Schulbüchern, Medien oder Standardwerken unterbreitet wird, bricht die europäische Geschichte auf Kriege widriger, aggressiver Nationen herunter, wie sie uns modellhaft im Gegensatz zwischen den sogenannten Erbfeinden Frankreich und Deutschland gleich einem Modell verfehlter Geschichte entgegentritt. Ausgeblendet wird dabei nicht selten, dass dieser Gegensatz schon Jahrhunderte vor dem bürgerlichen Zeitalter bestanden hatte, als Deutschland noch kein politischer Begriff und ähnlich zerstückelt war wie unser heutiger Kontinent. Wahrscheinlich beruhte der bezeichnete Gegensatz sogar auf dem Umstand, dass Frankreich ein starker Territorialstaat war, dessen schwacher Nachbar nicht zuletzt an den Privatkriegen seiner Duodezfürsten zerbrach. Auf andere Weise wurde Polen mit dem Verlust seiner Selbständigkeit von Preußen und dem russischen Zarenreich in die Zange genommen und so eine fatale Tradition begründet, die dann im 20. Jahrhundert auf grausame Weise durch Deutschland und die Sowjetunion fortgesetzt werden sollte.

2. Die Anpassung des Nationalstaats an die Globalisierung


Ein offenes Geheimnis ist die zukünftige Organisationsform Europas, die keine andere sein wird als der bislang dämonisierte Nationalstaat. Nicht selten ist von ‚Nation Europa‘ oder ‚Republik Europa‘ die Rede, was nicht die Überwindung, sondern Erweiterung nationalstaatlicher Strukturen impliziert. Diese aber bedeuten nichts Geringeres als die Anpassung des alten Nationalstaats an die Größenverhältnisse der Globalisierung, wie sie schon George Orwell in seinem diesbezüglich nicht eben häufig zitierten Roman ‚1984‘ als Konflikt zwischen den imperialen Machtblöcken Ozeanien, Eurasien und Ostasien andeutet.

Diese Entwicklung von kleineren Einzelstaaten zu Kolossen stellt sich zwar in einer derartigen Dimension als etwas Neues heraus. Aber wirklich außergewöhnlich ist sie keineswegs, denn bereits die Bildung von Territorialstaaten am Ende des Mittelalters bzw. zu Beginn der Neuzeit impliziert einen ähnlichen Vorgang, der wie Foucault es beschreibt, den Krieg aus dem Landesinneren an die Grenzen des Territoriums verschiebt. Als beispielhaft darf hier wiederum Frankreich gelten, dessen Monarchen sich über die Territorialfürsten stellen und vom XV. bis zum XVIII. Jahrhundert ihre Macht zusehends zentralisieren. Regime können sich ändern, doch der traditionelle Zentralismus der französischen Republik dürfte eine Konsequenz dieser historischen Tendenz sein.

Ganz anders Deutschland, das bis zur Gründung des zweiten deutschen Kaiserreichs als ein unüberschaubares Gebilde von Kleinstaaten der Rivalität Preußens und Österreich-Ungarns unterworfen war. Kriege spielten sich bis 1870 nicht an den deutschen Grenzen ab, sondern auf deutschem Boden selbst. Furchtbarstes Ereignis war in diesem Zusammenhang der Dreißigjährige Krieg. Von ca. 18 Mio Menschen, die seinerzeit im Reich lebten, verloren ein Drittel ihr Leben. Historische Gründe für militärische Konflikte sind demnach nicht die bloße Existenz von Nationalstaaten.

Vielmehr ist anzunehmen, dass die Ungleichzeitigkeit der Verhältnisse, die Verschiedenheit staatlicher Organisationsformen Kriege in Europa erst ermöglichten. Ähnlich waren die historischen Ausgangsbedingungen in Italien, das zum Leidwesen Machiavellis unausgesetzt Spielball größerer Mächte wurde, so etwa zwischen dem französischen König François I. und dem spanischen Carlos I., seines Zeichens auch Kaiser Karl V. des Heiligen Römischen Deutscher Nation.

3. George Orwells ‚1984‘ als literarische Warnung vor großen staatlichen Gebilden

Natürlich bestand das Problem nicht allein in der unterschiedlichen Größe der europäischen Staaten, sondern in der Tendenz großer Territorien, sich kleinere einfach einzuverleiben, eine Tendenz, mit der es die europäische Politik noch immer zu tun hat. Damit kommen wir aber einem Problem näher, das ebenfalls hinreichend Gestalt im Roman ‚1984‘ findet.

Seit dieser Zeit nämlich war der Krieg buchstäblich ein Dauerzustand geworden, wenn es sich auch genaugenommen nicht immer um den gleichen Krieg handelte. Mehrere Monate während seiner Kindheit hatten in London selbst wirre Straßenkämpfe getobt, an einige davon erinnerte er sich noch lebhaft. Aber die geschichtliche Entwicklung genau zu verfolgen und zu sagen, wer jemals wen bekämpfte, wäre vollständig unmöglich gewesen, denn keine schriftliche Aufzeichnung oder mündliche Überlieferung erwähnte je eine andere Konstellation als die gegenwärtig gültige. So war zum Beispiel in diesem Augenblick, um das Jahr 1984 (man schrieb tatsächlich das Jahr 1984), Ozeanien mit Eurasien im Kriegszustand und mit Ostasien verbündet. In keiner öffentlichen oder privaten Verlautbarung wurde je zugegeben, daß die drei Mächte jemals anders gruppiert gewesen seien. In Wirklichkeit war es, wie Winston sehr wohl wußte, erst vier Jahre her, daß Ozeanien Ostasien bekriegt und mit Eurasien ein Bündnis gehabt hatte. Aber das war nur ein kleiner Schimmer historischen Wissens, den er auch nur besaß, weil seine Erinnerung noch nicht hinreichend kontrollierbar war. Offiziell hatte nie eine Veränderung in der Kombination der Partner stattgefunden. Ozeanien führte mit Eurasien Krieg: also hatte Ozeanien immer mit Eurasien Krieg geführt. Der augenblickliche Feind stellte immer das Böse an sich dar, und daraus folgte, daß jede vergangene oder zukünftige Verbindung mit ihm undenkbar war.

Die Auflösung kleinerer Staaten in große Imperien ist an sich noch keine Friedenslösung, selbst wenn sie sich mit weniger autokratischen Mitteln vollzieht als unter der Diktatur des ‚Großen Bruders‘. Die Europäische Union versteht sich selbst als Friedensprojekt, aber zugleich auch als notwendige Konsequenz einer Globalisierung, in der sich eine multipolare Welt abzeichnet. Deren Akteure sind Staaten wie Indien, China, Russland, Brasilien und die USA, die selbst von so außerordentlichen Dimension sind, dass sie sich nicht einem wie immer gearteten Verbund anschließen können. So ist es bezeichnend, dass sich der Verband südostasiatischer Nationen ASEAN gegen die aufkommende Hegemonialmacht VR China gegründet hat. Und ähnlich verhält es sich in dieser Beziehung mit der Europäischen Union, deren osteuropäische Mitgliedsstaaten vor allem Schutz vor der hegemonialen Großmacht Russland suchen.

4. Große Schwellenländer als potenzielle Gefahren für kleinere Staaten

Desto unmäßiger sich staatliche Gebilde in Raum, in wirtschaftlicher und politischer Hinsicht ausdehnen, desto größer scheinen die Fliehkräfte zu werden, die sich ihnen zu entziehen suchen. In den genannten Ländern wird zwangsläufig ein Widerspruch zwischen politischem Zentrum und einer Peripherie entstehen, die sich nicht als Teil einer Gesamtstruktur versteht, sondern regionale, ethnische und soziale Besonderheiten ihrer jeweiligen Region geltend machen wird. Gerade die Vereinigten Staaten von Amerika machen hier die Probe aufs Exempel, wenn gegen das ‚liberale‘ Establishment in Washington zu Felde gezogen wird.

Aber auch Länder wie China, Indien. Brasilien oder Russland haben ihr jeweiliges ‚Kaschmirproblem‘, ihre regionalen und religiösen Minderheiten, ihre Ureinwohner, die offensichtlich nicht in das Bild der entsprechenden Zentralmacht passen. Bei allen Unterschieden müssten an anderer Stelle einmal die Gemeinsamkeiten untersucht werden, die sich hier auftun. In diesen Ländern werden die demokratischen Institutionen untergraben (USA, Brasilien, Indien) oder die Entwicklung einer demokratischen Zivilgesellschaft mit aller Gewalt verhindert (Russland, VR China). Demokratie erfordert Transparenz und überschaubare Prozesse der Meinungsbildung.

Die schiere Größe und Weite dieser Länder legt es nahe, dass sich ein Machtzentrum bilden muss, das mit Parteien, Behörden, Geheimdiensten und militärischen Komplexen wie ein Staat im Staate wirkt. Zentralisierung bedeutet aber Verlust an Mitsprache der Bürger, ihrer regionalen, sprachlichen und politischen Vielfalt. Heute wiederholen sich Formationsprozesse, die wir sie in kleineren Dimensionen bereits aus der Geschichte der Nationalstaaten kennen.

5. Zurück zu Orwell

Was bereits weltweit nach dem Ende der bipolaren Blockbildung in Politologie und Kulturwissenschaft wieder entdeckt wurde, ist die Politik des Raums, wie ich sie 2002 selbst in einem Beitrag über die Mehrsprachigkeit behandelt habe. Es entbehrt daher nicht einer gewissen Ironie, dass die neue Präsidentin der Europäischen Union gerade die besondere geopolitische Kompetenz der Kommission (a truly geopolitical commission) hervorhebt. Jenes Europa, das sich anmaßt, den Schlusschor der Neunten Symphonie Ludwig van Beethovens zu seiner Hymne zu machen („Alle Menschen werden Brüder“), will mitspielen im Konzert der Großmächte, ohne sich zu fragen, ob es nicht fragwürdig ist, an einem derart schlechten Musikstück überhaupt mitzuwirken. Indem sich die Machtblöcke bei Orwell so sehr in Rivalität begegnen, ähneln sie sich gerade deshalb auf so erschreckende Weise. Ihre Gemeinsamkeit besteht gerade in ihrer übermäßigen Ausdehnung, die aggressives Verhalten nach außen und gegen die eigenen Bürger bedingt. Im Innern macht sich ein dosierter, wenn nicht sehr kontrollierter Austausch von Informationen in gelenkten Medien bemerkbar. ‚Alternative‘ Fakten, fake news werden verbreitet, die die historische Wirklichkeit in eine von den Institutionen gewünschte Logik bringen, wie wir es auch aus dem Reich des Großen Bruders kennen.

Und wenn alle anderen die von der Partei verbreitete Lüge glaubten – wenn alle Aufzeichnungen gleich lauteten –, dann ging die Lüge in die Geschichte ein und wurde Wahrheit. »Wer die Vergangenheit beherrscht«, lautete die Parteiparole, »beherrscht die Zukunft; wer die Gegenwart beherrscht, beherrscht die Vergangenheit.« Und doch hatte sich die Vergangenheit, so wandelbar sie von Natur aus sein mochte, nie gewandelt. Das gegenwärtig Wahre blieb wahr bis in alle Ewigkeit.

Erinnern wir uns es uns weiter, dass im Zuge dieser Geschichtsklitterung auch eine Umwertung der Werte betrieben wird. Nach der gängigen Sprachregelung bedeuten Frieden Krieg, Freiheit Sklaverei und Unwissenheit Stärke. Politische Macht aber verkörpert sich in der Gestalt des Großen Bruders, die omnipräsent ist und absolute Wahrheit für sich in Anspruch nimmt. Und an dieser Stelle verlassen wir die Fiktion, um uns erneut der politischen Realität zuzuwenden: der charismatische Führer, der in Wahlkämpfen die Massen fasziniert, aufhetzt und dabei einen gemeinsamen Feind heraufbeschwört. Auf diese Weise wird das Zerrissene wieder zu einem Ganzen zusammengefügt, auch wenn diesem Umstand Minderheiten jeder Art zum Opfer fallen.

Man könnte nun einwenden, dass es sich bei den genannten Staaten in den meisten Fällen um Föderationen handelt (Ausnahme: VR China), deren Republiken über eine große oder weitgehende Autonomie verfügen. Insoweit bestände zwischen dem Ganzen und den Teilen doch ein gewisser Ausgleich, der eine mehr oder minder angemessene Verteilung von Macht und damit auch deren Kontrolle implizierte.

Beim genauen Hinsehen erweist sich doch, dass eine solche Balance in Indien, Brasilien oder gar in Russland nicht besteht, wobei diese Frage innerhalb des EU-Bereichs bisher nicht völlig geklärt ist. Die EU-Institutionen, aber auch populistische Bewegungen in einigen Mitgliedsländern sind hier sehr bemüht, einen schroffen Gegensatz zwischen dem Ganzen und den Teilen entstehen zu lassen. Aus Brüssel hört man allenthalben, dass Nationalstaaten ohnehin die Quelle allen europäischen Unglücks sei (wobei in dem Vertrag von Lissabon der Begriff ‚Nation‘ nicht ein einziges Mal auftaucht), während die äußerste politische Rechte diese in deren Zugehörigkeit zur Union selbst verortet.

6. Das große malentendu mit dem Begriff der Nation 

Dabei tritt historische Ignoranz auf beiden Seiten offen zutage, so dass wir den Begriff an dieser Stelle in aller Kürze klären müssten. Man hat das 19. Jahrhundert vielfach als ‚Zeitalter der Nationalstaaten‘ bezeichnet, dabei aber verkannt, dass die Projektionsebene nicht nur die Nation, sondern auch immer die Menschheit war.

Unter dem Eindruck der Revolutionen, die seit 1750 die die alte Ordnung in Europa und Amerika erschütterten, entwickelte sich in der idealistischen Philosophie die Überzeugung, dass die historische Zeit rasch vorangeht und damit auch die Nationen nur nur ein temporäres temporäres Stadium der Geschichte bildeten. So vertrat etwa Goethe die Ansicht, dass Nationalliteraturen nicht viel besagten, weil die Epoche der Weltliteratur an der Tagesordnung sei. Unter den liberalen Geistern herrschte vielfach die Vorstellung, dass die Nationen eine Art Transitionsrahmen darstellten, In dem die Menschheit allmählich zu sich selber finden kann. Nach der Auffassung Hegels ist die Geschichte von einem unwiderstehlichen Prozess bestimmt, in der die Vernunft zu einer zweiten Natur des Menschen wird, mit der dieser sich von seiner barbarischen Seite emanzipiert und damit zivilisiert. Die Überwindung von Zwängen, wie sie den Menschen aufgrund von Familien-, Standes- und Stammeszugehörigkeit auferlegt sind und seinen Willen bestimmt, liegt bereits in der Logik des kategorischen Imperativs. Denn dieser ruft jedes Individuum dazu auf, unabhängig von seiner Herkunft und Religion, zum universellen Beispiel für andere zu werden.

Die verhängnisvolle Entwicklung, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das an sich linke und progressive Nationalprinzip belastet hat, hat zwar nach dem Zweiten Weltkrieg nicht gerade die Rückkehr zur Hegelschen Geschichtsphilosophie begünstigt, wohl aber das Misstrauen in die geltenden politischen Religionen. Besonders in Deutschland hat der Nazismus nicht nur die politischen Grundlagen der Nation erschüttert, sondern bis in die sinnlichsten Bereiche eine ruinöse Abbrucharbeit geleistet. Im Grunde hat er unter den Einfluss des wissenschaftlich verbrämten Rassismus des Westens (Houston Stuart Chamberlain, Artur de Gobineau) die Nation auf ein vulgäres und barbarisches Stammesprinzip, auf ein bloßes Abstammungsprinzip, degradiert, was sie freilich in keiner Weise ist.

Dieses Missverständnis verkennt nämlich, dass sie im Gegenteil auf einem Plebiszit beruht, wie dies Ernest Renan in seinem berühmten Beitrag zu diesem Thema ausführte. Im Idealfall ist die Nation eine Komposition des Heterogenen, des Diversen und heute so vielzitierten Mannigfaltigkeit. Der Nazismus war nicht nur ein Menschheitsverbrechen, sondern auch ein fürchterlicher Irrtum, ein Schwindel, wie er nicht treffender in Michel Tourniers Roi des aulnes (Erlkönig) anhand perverser Bilder des Ambivalenten illustriert wird.

Nicht zuletzt in Deutschland haben diese historischen Gegebenheiten, vornehmlich in der liberalen, konservativen und linken Mitte neue Projektionen produziert, die sich allmächtig auf den Fluchtpunkt Europa richten. So nimmt die Europäische Union geradezu metaphysische Dimensionen an, die bei uns als Überwindung des Nationalprinzips erachtet werden, wohl wissend, dass sich dessen Geltung bis an die Grenzen Europas ausdehnt und damit in der Tat noch absoluter zu werden verspricht.

Nationen sind, wie ich es in einem jüngeren Beitrag zum Ausgangspunkt nahm, bewegliche Formen des Denkens, wie Schiffe, die am Horizont auftauchen, untergehen oder gar in der Versenkung verschwinden können. Sie stehen und fallen mit einem öffentlichen Diskurs, einer kollektiven Erzählung und Erinnerung, um es nochmals zu wiederholen, der von einer Polis getragen und zur Grundlage einer Gemeinschaft wird. So ist die Nation im Zuge des Kolonialismus zwar zu einem universalen Prinzip geworden. Es existiert aber keine Menschheitsnation, was sicherlich auf dem ersten Blick unsere Sympathien auf sich ziehen würde, bei genauem Hinsehen aber wohl eine fürchterliche Perspektive wäre, wenn wir Hannah Arendt in Macht und Gewalt folgen.

Auch Regionen eignen sich keineswegs in Hinblick auf politische Religionen als neutrale Fluchtpunkte. Wie in den 1990er Jahren Jugoslawien, so droht demnächst Spanien und Großbritannien die Auflösung ihrer nationalen Einheit. Wenn sich Regionen zu einer Nation zusammenschließen können (z. B. Belgien, Deutschland, Italien im 19. Jahrhundert), dann vermögen es diese auch sich zu autonomisieren und abzuspalten, was aus unserer Sicht vielleicht ein beklagenswerter historischer Irrtum wäre.

Doch nicht uns obliegt diese Entscheidung, sondern jenen Menschen, die Teil der betreffenden Polis sind. Wie ich mich entsinne, hat sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks gerade die Regierung der Bundesrepublik Deutschland auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker berufen. Die Menschen sind auch, die das Fecht haben, ihre Stimme bezüglich der Europäischen Union zu erheben.

7. Die Perspektive der Vereinten Regionen und Nationen Europas

Damit Europa nicht nur ein Joker in einer krummen Machtpolitik wird, bedarf es dieser Mitsprache aller Menschen. Die Perspektive einer europäischen Einigung ist vom Grundsatz her völlig richtig, aber nur dann, wenn das Prinzip der Subsidiarität tatsächlich umgesetzt wird, d. h. wenn eine Föderation vereinter europäischer Regionen und Nationen entsteht. Aus dieser auszutreten, sollte ebenso wenig als Majestätsbeleidigung gelten, sondern eine Analogie zum freien Assoziations- und Koalitionsprinzip bilden, das es Bürgern erlaubt, Vereinen, Parteien und religiösen Gemeinschaften beizutreten, diese aber auch nach dem Willen der Bürger wieder zu verlassen.

Föderale Strukturen, wie sie bereits in einigen Mitgliedsländern der EU bestehen, könnten ein gutes Beispiel sein, um staatlichen Zentralismus zu vermeiden. Denn ebendiesen kennen wir aus der deutschen Geschichte auch als verhängnisvoll und demokratiefeindlich. Im Ganzen müssen wir Europa wie einen Legobaukasten begreifen, in dem sich Teile zusammensetzen, aber auch wieder vereinzeln können. Nur indem wir die Regionen Europas in ihren geschichtlichen Kontexten anerkennen, werden diese auch in der Lage sein, den jeweiligen Zusammenschluss zu suchen, die den Teilen aufgrund ihrer Tradition, ihrer revolutionären Erfahrungen, aber auch historischen Belastungen angemessen ist.

Friedrich Schillers Wort „Deutschland? Aber wo liegt es? Ich weiß das Land nicht zu finden, wo das gelehrte beginnt, hört das politische auf“ trifft heute unter anderen historischen Umständen auf Europa zu. Damit es zu einer politischen Gemeinschaft wird, muss es von unten aus den Städten, Regionen und Nationen wachsen und diesen starke Wurzeln schlagen. Nur wenn die Fliehkräfte der EU in föderative oder konföderative Partizipationsstrukturen umgeleitet werden, wird es auf Dauer möglich sein, sezessionistischen und nationalistischen Kräften Energien zu entziehen. Europa braucht mehrere Optionen, nicht nur die EU.

 
Der Beitrag wird ggfs. noch erweitert.