Ein Versuch, mir meine Trauer, Resignation und Wut von der Seele zu schreiben, um nicht daran zu zerbrechen

Sonntag, 31. Dezember 2017

2017-5 Auf ein neues Jahr




Das Jahr ist im Rückblick rasch vorbeigezogen. Wenn ich aber an einzelne Tage oder gar Momente zurückdenke, dann hat es sich wie eine langsame Bahn von Station zu Station vorwärtsgeschraubt, ohne große Einsichten, vielleicht bis auf diese, dass es schwer ist, alte Gewohnheiten aufzugeben und sich in ganz neuen und anderen Lebenslagen zurechtzufinden. Wer diese Entwicklung durchgemacht hat, wird vor allem den Verlust an Freiheit beklagen, der sich mit dem Leben einer Honorarkraft einstellt. Jene Zeitgenossen, die nichts anderes kennen, werden aufgebracht widersprechen und daran erinnern, dass man doch schließlich sein eigener Herr ist, der seine Zeituhr selbst aufzieht und damit seine Arbeitsstunden so gestalten mag, wie er mag. Dies ist zwar richtig, aber der Universitätsbetrieb hat seine Freiheiten, die in nichtakademischen Arbeitszusammenhängen kaum bekannt sein dürften. Nun ist jede Stunde gezählt, weil jede Stunde ihren Termin hat, der zuweilen schwer ausgehandelt werden muss. Und jeder Termin ist nicht nur Lebenszeit, sondern auch Verdienst, um den zu ringen ist. Ich hätte nicht gedacht, dass ich als Angestellter eine solche Kraft gehabt hätte, mich auf diesem Markt so gut zu bewähren, auch wenn ich mir diesen Umstand allein zu verdanken habe. Denn es hat freilich immer zahlreiche Leute gegeben, die mir das Arbeitsleben durch ihre Freundlichkeit und Hilfe so ungemein erleichtert haben.
Dieser tiefe Fall aus den Höhen der Akademikerherrlichkeit vor vier Jahren ließ anfangs Schlimmes befürchten, aber inzwischen habe ich zu meiner alten Sicherheit zurückgefunden. Und vielleicht sind derartige Schicksalsschläge nur Anlass, um noch stärker zu werden. Womöglich ist dies geradezu ein körperlicher Vorgang, der größere Vitalität mit sich bringt, damit wir die um so größeren Herausforderungen auch besser bestehen können. Und die Schwierigkeiten und Enttäuschungen brechen nicht ab. Einen gewissen Halt habe ich an der Humboldt Universität durch meine Lehraufträge erfahren, die zwar nicht bezahlt waren, mir aber von Seiten der Studenten viel Anerkennung eingebracht haben. Inzwischen sollen diese Aufträge aber honoriert werden, was einerseits sicherlich auch absolut gerechtfertigt ist, andererseits aber nun dazu führen wird, dass ich nicht mehr in jedem Semester meine Lehrtätigkeit aufnehmen kann. An den romanischen Seminaren in Berlin spricht man inzwischen von einem Überangebot, das bestehende feste Stellen in ihrem Bestand gefährdet. Lehrbeauftragter bedarf es daher um so weniger, sind sie doch auch eine störende Größe für derlei Berechnungen. Ich hätte mich auch gern weiterhin mit einer unbezahlten Lehrtätigkeit abgefunden, da ich als Privatdozent ohnehin nur ein höchst 'privater' Dozent bin, in dem Sinne nämlich, dass die Hochschule nur noch Ort meines privaten Zeitvertreibs ist. In beruflicher Hinsicht wurde ich buchstäblich aus der Universität verjagt.
Da nicht nur ich eine derartige Situation hinzunehmen habe und zahlreiche respektable Kollegen auf der Straße sitzen, werden sich die Verantwortlichen fragen müssen, ob ihre Entscheidungen gerecht und angemessen waren, ob sie den Interessen unseres Faches entsprachen. Aber diese Fragen pflegen in der sogenannten Gruppenuniversität mit ihren Einzelinteressen ohnehin unterzugehen, was gerade für eine strukturell so fragile Philologie wie die Romanistik von tragischer Tragweite sein dürfte. Dass die sogenannte Bologna-Reform, die sich eher wie eine Art Deformation ausnimmt, ihr Übriges dazu beigetragen hat, um diese Tendenz zu beschleunigen, ist zu einer Alltagsweisheit geworden. Die Faszination der Romanistik beruht auf einem Gesamtzusammenhang, der komparatistisches Herangehen an Sprachen, Literaturen und Kulturen erst möglich und sinnvoll erscheinen lässt. Dass dieses Fach, in seine Einzelphilologien zerfallen, an Attraktivität verloren hat, ist aufgrund zurückgehender Studentenzahlen ebenfalls offensichtlich geworden. Aber das ist eine andere Geschichte, die auch anderswo schon erzählt wurde.

Mittwoch, 6. September 2017

2017-03 Auferstanden aus der Sprache

Und wieder kehre ich nach langer Zeit zu meinem Blog zurück, der bisher in diesem Jahr erst zwei Einträge verzeichnet. Womöglich haben sich schon zahlreiche meiner Leser von mir verabschiedet, da sie kaum noch Neuigkeiten von meiner Seite erwarten. Aber ich will doch Wort halten und immer wieder neue Notizen hinterlassen. Doch wird dies aufgrund meiner vollständig veränderten Lage nicht mehr so häufig der Fall sein können wie früher, zu meinem Bedauern, denn ich lese und schreibe sehr gern. 
Meine jetzige Lehrtätigkeit als Deutschlehrer auf Honorarbasis hat mein gesamtes Leben radikal verändert. Meine Arbeit als Privatdozent hatte zwar angesichts so zahlreicher Vertretungen immer auch etwas Unstetes. Über Jahrzehnte, zuerst als Assistent in Leipzig, dann als Vertreter von Professuren bin ich durch ganz Deutschland gereist, ohne mich jemals auf ein bestimmtes Institut, auf bestimmte Kollegen konzentrieren zu können. Dem Vagabundieren zwischen Hochschulen wie Leipzig und Bonn, Berlin und Heidelberg, Augsburg und Saarbrücken, Potsdam und Gießen entsprach auch eine intellektuelle Vagabondage zwischen unterschiedlichsten Schwerpunkten in der Romanistik.
  
Unter diesen Umständen hatte ich mich immer wieder mit den Schwerpunkten bzw. Profilen auseinanderzusetzen, die den von mir zu vertretenden Professuren entsprachen. Was ich selbst stets als wohltuend empfunden habe, nicht erst in die Versuchung eines behäbigen Beamtendasein zu geraten und beweglich zu bleiben, hat sich aus der Sicht eines akademischen Establishments womöglich als Defizit erwiesen. Der Wunsch, nicht ein bestimmtes Thema zu kolonisieren, sondern immer wieder neue Bereiche kennenzulernen, wird nicht eben geschätzt. Ebenso wenig konnte man mir womöglich verzeihen, dass ich mich in den letzten Jahren der 'Neuen Romania' zugewandt hatte. 
Aber wer konnte mir dies verübeln, wenn ich nach meinen Studien über eher klassische Themen im 'Finis Africae' ein neues Ziel zu suchte, mit dem ich auch eine nicht zuletzt auch finanzielle Förderung meiner neuen Projekte verband. Immerhin war ich aufgrund meiner fachlich zwar geachteten Habilitationsschrift nicht zum Professor berufen worden. Ich hätte aber von Anfang wissen müssen, dass entsprechende Institutionen nicht nach der tatsächlichen wissenschaftlichen Lebensleistung eines Antragstellers fragen, sondern diese einzig und allein nach dem Maß von Status und Alter berechnen. Die Bewertung eines zur Vorlage gebrachten Projekts beruht nicht auf dessen Sinnhaftigkeit und Qualität, sondern vorzugsweise auf der Frage, wie weit es der Antragssteller in der akademischen Hierarchie gebracht hat. Kommt noch dessen vorgerücktes Alter hinzu, so scheint das 55. Lebensjahr aus dieser engen Sicht wohl überhaupt die Grenze einer ernstzunehmenden akademischen Vita zu markieren. Nur jene, die vormals schon in den wohlverdienten Beamtenstatus berufen worden waren, können auch mit einer größeren Autorität auftreten, auch wenn nicht wenige von ihnen gleichfalls mit ihren Anträgen in Forschungsinstitutionen scheitern, allerdings mit weitaus weniger unangenehmen Konsequenzen für sie selbst.
Man sagt, dass die Zeit Wunden heilt. Dies ist aber wohl nur eine Teilwahrheit. Die zeitliche Distanz zu einem Unglück, einer Niederlage erlaubt es uns nur, die Wunden besser zu ertragen. So würde ich meine Situation beschreiben. Die Lehrtätigkeit als DaF-Lehrer bringt mich mitunter mit interessanten und hochmotivierten Menschen zusammen, die mir diese oft einseitige Arbeit an und mit der Sprache sehr erleichtert haben. Dennoch muss die poetische und literarische Seite der Sprache mit dem Studium der Grammatik eher weit in den Hintergrund rücken. Und auch meine wissenschaftliche Arbeit muss naturgemäß unter diesen Verhältnissen leiden. Ein alter Freund riet mir, meine Projekte auf dem Schreibtisch zu stapeln, um sie dann zu gegebener Zeit wieder in Angriff nehmen zu können. Etwas Anderes wird mir wohl auch kaum übrig bleiben.
Für mich war es stets ein Hobby, eine wissenschaftliche Tätigkeit ausüben zu können. Vielleicht hätte es auch immer ein Hobby für mich bleiben sollen, zumal ich nicht wenige Kollegen kenne, die sich im höheren Altern noch sehnsüchtig daran erinnern, wie sie einstmals begonnen hatten. Einige dieser Kollegen mussten fassungslos mitansehen, wie der Lehrstuhl, den sie womöglich in Jahrzehnten langer Arbeit aufgebautvorzugsweise auf der Frage, wie weit es der Antragssteller in der akademischen Hierarchie gebracht hat. Kommt noch dessen vorgerücktes Alter hinzu, so scheint das 55. Lebensjahr aus dieser engen Sicht wohl überhaupt die Grenze einer ernstzunehmenden akademischen Vita zu markieren. Nur jene, die vormals schon in den wohlverdienten Beamtenstatus berufen worden waren, können auch mit einer größeren Autorität auftreten, auch wenn nicht wenige von ihnen gleichfalls mit ihren Anträgen in Forschungsinstitutionen scheitern, allerdings mit weitaus weniger unangenehmen Konsequenzen für sie selbst.
Man sagt, dass die Zeit Wunden heilt. Dies ist aber wohl nur eine Teilwahrheit. Die zeitliche Distanz zu einem Unglück, einer Niederlage erlaubt es uns nur, die Wunden besser zu ertragen. So würde ich meine Situation beschreiben. Die Lehrtätigkeit als DaF-Lehrer bringt mich mitunter mit interessanten und hochmotivierten Menschen zusammen, die mir diese oft einseitige Arbeit an und mit der Sprache sehr erleichtert haben. Dennoch muss die poetische und literarische Seite der Sprache mit dem Studium der Grammatik eher weit in den Hintergrund rücken. Und auch meine wissenschaftliche Arbeit muss naturgemäß unter diesen Verhältnissen leiden. Ein alter Freund riet mir, meine Projekte auf dem Schreibtisch zu stapeln, um sie dann zu gegebener Zeit wieder in Angriff nehmen zu können. Etwas Anderes wird mir wohl auch kaum übrig bleiben.
Für mich war es stets ein Hobby, eine wissenschaftliche Tätigkeit ausüben zu können. Vielleicht hätte es auch immer ein Hobby für mich bleiben sollen, zumal ich nicht wenige Kollegen kenne, die sich im höheren Altern noch sehnsüchtig daran erinnern, wie sie einstmals begonnen hatten. Einige dieser Kollegen mussten fassungslos mitansehen, wie der Lehrstuhl, den sie womöglich in Jahrzehnten langer Arbeit aufgebaut hatten, nach ihrer Emeritierung gestrichen werden sollte. Andere wiederum waren der langen Kämpfe mit mißgünstigen Neidern überdrüssig und sahen sich mit dem Ende ihrer Dienstzeit buchstäblich aus ihren Seminaren gedrängt. Diese Leidensphasen sind mir glücklicherweise erspart geblieben. Ich wusste immer schon am Anfang einer Vertretung, dass meine Semester gezählt sind. Privatdozent zu sein, heißt, schon früh die eigene Endlichkeit zu erfahren.
Wenn ich jedoch von einem Hobby spreche, dann gewiss nicht, weil ich die akademische Tätigkeit etwa mit Geringschätzung betrachten würde. Vielmehr ist nichts anderes als das Gegenteil denkbar. In bestimmter Hinsicht habe ich mich immer als konservativ empfunden, nicht im ideologischen, sondern eher naiven Sinn. Ich war stets der Meinung, dass wissenschaftliche Erkenntnis und Methode auch Ausdruck einer Lebenshaltung sein sollten. Ich konnte einfach nicht akzeptieren, dass Feminismus, Gender- bzw. Queertheorie oder Philosophie der Postmoderme zu schnöden Geschäftsmodellen degradiert werden. Diese und andere Wissensbereiche haben an einem akademischen Markt Anteile, die im Zuge von Berufungen, Projektbewilligungen, Stellenausschreibungen, SFB (Sonderforschungsbereiche) etc. zu- oder abnehmen. 
Dass Feministen womöglich in ihrem privaten Glück Machoallüren ertragen, die sie in ihrem wissenschaftlichen Diskurs heftig bekämpfen, dass postmoderne Professoren mitunter auch an prämodernen Kategorien und Hierarchien festhsalten, die sie in ihren Vorlesungen zu dekonstruieren wagen, erschien mir unfassbar. Es ist eine Binsenweisheit, dass wir allemal in Widersprüchen leben, die wir auch beim besten Willen nicht aufzulösen imstande sind. Aber wenn der Zusammenhang von Leben und Beruf, Theorie und Praxis einen Sinn haben soll, müsste er sich an dieser Stelle einstellen.
In diesem Sinn ist es mir auch wichtig, die Frage nach der political correctness erneut aufzuwerfen. Es steht für mich überhaupt nicht zur Debatte, dass in öffentlichen Dingen keine persönlichen Beschimpfungen und Denunziationen gestattet sein dürfen. Aber alles, was über diese menschlichen Selbstverständlichkeiten hinausgeht, ist mir zuwider. Wenn sich die Sprache in Euphemismen hüllt bzw. historisch entstandene Begriffe oder Namen durch Worte ersetzt, die dem Stil und den Auffassungen der Zeit entsprechen, halte ich dies für überaus problematisch.
Ein Beispiel: Als ich auf dem Afrikatag in Bayreuth vor einigen Jahren über den antikolonialistischen Roman des Katalanen Albert Sánchez Piñol Pandora al Congo referierte, der an die Zeitstimmung vor und während des Ersten Weltkriegs in Großbritannien erinnerte, musste ich aus historischen Gründen zweimal das Unwort 'Neger' in den Mund nehmen. Auf meinen Vortrag ging fast niemand der Sektionsteilnehmer ein. Der eigentliche Gesprächsgegenstand war dieses Wort, das es doch zu vermeiden gelte. Mein Herz schlägt immer für Menschen, die aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Geschlechts, ihrer sexuellen Orientierung diskriminiert werden. Aber ist es nicht spätestens seit Freud eine Binsenweisheit, dass das Gesagte nicht das Gemeinte sein muss, dass die Sprache nicht immer verräterisch sein muss, wie dies gerade an der Praxis der Nationalsozialisten hinlänglich zu belegen wäre? Ist es nicht gerade so, dass das Euphemistische der Barbarei auch immer die himmelschreiend unmenschliche Seite des Unrechts kaschiert. Waren eitle Lügenwörtchen wie 'Lebensraum im Osten', 'Endlösung', 'Sonderbehandlung' oder die hygienischen 'Brausebäder', nicht zu sprechen von Tugenden wie 'Anstand', 'Sauberkeit' nicht gerade die geeigneten Kulissen für den Genozid? Müssten nicht gerade wir Deutschen gelernt haben, dass nicht schöne Worte auch eine schöne Wirklichkeit ergeben? Natürlich wussten die Teilnehmer meiner Sektion, dass ich keine rassistischen Untertöne im Sinn hatte. Aber wie leicht ist es doch, die eigene gute Gesinnung an den vermeintlichen sprachlichen Fehltritten eines anderen unter Beweis zu stellen? Ein historischer Roman wird, sofern er seinen Gegenstand ernst nimmt, stets den Versuch unternehmen, dem Leser in den Spannungsbogen historischer Horizonte einzuführen. Dabei treten die Kategorien und Wertmaßstäbe der eigenen Zeit in eine Spannung mit jener Epoche, die zum Objekt des Erzählens wird. Diese Gegebenheiten wird eine literaturkritische Bestandsaufnahme ebenso zu berücksichtigen haben wie dies ein Restaurator gegenüber den Beschädigungen eines Artefakts unternimmt. Dieser wird das Kunstwerk nicht so zurichten, dass eben diese Spuren verschwinden, so als ob er es neu geschaffen hätte. Vielmehr wird er die schadhaften Stellen so markieren, dass dem Betrachter die Ergebnisse der Restaurierungsarbeiten ersichtlich werden. Hier tritt ihm kein geliftetes, sondern ein in die Jahre gekommenes Kunstwerk vor die Augen.
Die angesprochene Form der political correctness ist daher auch keineswegs 'links' oder korrekt, sofern mit ihr eine bloße moralische Geste der historischen Dialektik ihren Platz streitig macht. Es ist längst bekannt, dass sich die Bürgerrechtsbewegung der Afroamerikaner in den 1960er und 1970er Jahren stets als Emanzipation der Neger verstand, wobei 'niger' im Lateinischen nichts anderes als 'schwarz' meint. Es gibt sogar zwei afrikanische Staaten, Nigeria und Niger, die in ihrem Namen auf diese Etymologie anspielen. Die Abgrenzung vollzog sich über Jahrzehnte immer zu jenem verachtenden Unwort, das den Buchstaben G verdoppelt. Was und wer die Veränderung sprachlicher Koordinaten hervorgerufen hat, vermag ich nicht sicher einzuschätzen. Es dürften weiße Diskursteilnehmer gewesen sein, denen mit wachsender Erschütterung offenbar geworden ist, was ihren schwarzen Schwestern und Brüdern über Jahrhunderte angetan worden war und noch immer wird, was denen in ihrem Namen gerade jetzt angetan wird. Diese historische Schuld lässt sich aber nicht durch eine euphemistische Sprache abtragen. Gerade in der Bezeichnung 'negro', 'nègre' - in Abgrenzung zum 'Weißen - offenbart sich diese doch hinlänglich. Tilgen wir den Namen, bringen wir nur unser schlechtes Gewissen zum Schweigen.
Was wir brauchen, ist eine Sprache, welche die Realien bei den Hörnern packt und nicht eine solche, die ihnen davonläuft. Sie muss den Anforderungen eines 'mot juste' Rechnung tragen, das den Menschen, aber auch der Sache und mithin der Geschichte gerecht wird. Wir müssen die Spuren des durch Gewalt verzerrten Dialogs kenntlich machen, anstatt sie mit den Worten einer noch immer nicht gänzlich gelungenen Emanzipation kaschieren zu wollen.

Sonntag, 26. Februar 2017

2017-02-Verspäteter Nachtrag zur Investitur des neuen US-Präsidenten/

Die Zeichen stehen auf Sturm. Vor uns entstehen Konstellationen, die bisher unvorstellbar waren. Endgültig vorbei ist jene Welt des Kalten Krieges, in der Freund und Feind so gut voneinander unterscheidbar waren. Ein bislang bei uns wenig bekannter Mann, der die mindesten bürgerlichen Anstandsregeln ebenso missachtet wie Frauen im Allgemeinen und seine Gegner im Besonderen, wurde kürzlich in eines der bedeutendsten Ämter eingeführt. Doch in den USA war er bereits hinreichend durch Skandale und Übergriffe bekannt. Als Donald Trump (* 1946) noch weit vom Ziel einer Präsidentschaft entfernt war und ihm die allerwenigsten eine reale Chance einräumten, war er bereits kein unbeschriebenes Blatt mehr, das man sich zu einem neuen Diktat hätte bereitlegen können. Er gehörte stets zur alten Wirtschaftselite, war allerdings bisher nicht sehr eng mit dem politischen Establishment verflochten, was vielleicht auch erklärt, dass er von 2001-2009 der Demokratischen angehörte, um sodann der Republikanischen Partei beizutreten. Mit der Unterstützung der Schlechtweggekommen, Gestrandeten und Verzweifelten gelang es ihm, alle notwendige Kräfte, einschließlich der Dummheit und der schlimmsten Instinkte gegen das Establishment in beiden Parteien zu mobilisieren.
Es ist eigentlich unnötig zu sagen, dass wir damit nicht seine Wähler beschimpfen wollen, wie manche voreilige Stimmen behaupten wollen. Es liegt auf der Hand, dass den Dauerarbeitslosen und dem Milliardär Trump gemeinsame Interessen fehlen. Es sind lediglich Verzweiflung und Hoffnung, die mit List und rhetorischer Raffinesse, getarnt als Grobheit, Halbwissen und Lügen, eine folgenschwere Allianz eingingen, um den Wahlkampf in diesem zum Sieg zu verhelfen. Auch ich kann dieser Entwicklung nicht Gutes abgewinnen, schon allein deshalb, weil die ohnehin bescheidenen Fortschritte der Obama-Administration nun auch noch rückgängig gemacht werden sollen. Allerdings teile ich auch nicht die manichäische Ansicht, dass die Welt vor Trump in Ordnung war, während sie jetzt in endloses Chaos versinke. Es waren immerhin die bisherigen Verhältnisse, die die jetzige Situation überhaupt erst hervorbrachten. Wer die bisherige Globalisierung kritiklos verteidigt, wer die schroffen Ungerechtigkeiten zwischen reichen und armen Ländern als gegeben rechtfertigt, ist kein glaubwürdiger Kritiker der neuen Administration. Der Nationalismus des Herrn Trump, wie verlogen er doch auch immer sein mag, hat doch einen rationalen Kern, den wir alle ernstnehmen müssen. Die Welt des freien Handels beruht häufig genug auf einseitigen Abmachungen, die zumeist zu Lasten der schwächeren Seite gehen. Es ist wahr, profitiert haben letztlich auch Hunderte Millionen von Menschen in Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien. Verloren haben aber zugleich Arbeiter- und Mittelklassen in den entwickelten Ländern Europas und Nordamerikas, die als nunmehr Deklassierte von den ‚Populisten‘ als Wähler für ihre antiliberale Politik rekrutiert werden.
 Insofern erscheint es auch geraten, den liberalen Gegnern des Herrn Trump ein wenig mehr Misstrauen entgegenzubringen, ohne diesen selbst freilich mit Sympathie zu bedenken. Auch die linken Demonstranten, die monatelang zu Recht gegen TTIP und ähnliche Abkommen demonstrierten, reiben sich erstaunt die Augen. In Zweifel gezogen wird die Mär vom freien Welthandel nun auch von jenen, die aus ihrer Sicht bisher zum politischen Establishment gehörten. Damit entstehen ganz neue Konstellationen, die zurecht fragwürdig erscheinen. Der neue Präsident polarisiert die Gemüter derart, dass sich jene, die dem freien Welthandel bisher wenig abzugewinnen mochten, nun Gemeinsamkeiten mit Wirtschaftsliberalen finden. Dabei geraten Alternativen jenseits von enthemmter Globalisierung und Protektionismus aber aus dem Blickfeld, obwohl sie doch gerade zu den Verhältnissen geführt haben, wie wir sie jetzt vorfinden. Freilich mutet es seltsam an, wenn ausgerechnet die Führungsnation der westlichen Welt einem protektionistischen Kurs folgt, obwohl doch ihre Politik der letzten hundert Jahre immer darauf bedacht war, neue Märkte für sich zu gewinnen und alles zu tun, damit nationalistische oder autonomistische Strömungen in den armen Ländern scheitern. Wer immer auch dieser Politik widersprach und die Expansion von US-Firmen erschwerte, wurde im Zuge des Kalten Krieges als Kommunist oder Feind des Westens denunziert. Ob Mossadegh, Nasser, Lumumba oder der zunächst noch zum Nationalismus neigende Castro – tutti quanti wurden sie des Kommunismus bezichtigt, obschon es ihnen doch vor allem um wirtschaftliche Unabhängigkeit gegenüber den amerikanischen Monopolen ging. Letztlich stand dabei nicht der vielzitierte ideologische Gegensatz zwischen offener Gesellschaft und Kommunismus im Vordergrund als vielmehr der Umstand, dass sich die Einparteienstaaten kaum für offene Märkte eigneten, sondern ein beständiges Risiko für die Sicherheit amerikanischer Investitionen darstellten. Inzwischen gibt es wenigstens diese Gefahren nicht mehr, so dass es um so erstaunlicher erscheint, dass zur gleichen Zeit auch die Briten, die alten Beherrscher der Meere, als Folge des Brexits ihre Zugbrücken hochziehen. So macht gerade diese merkwürdige Koinzidenz dies- und jenseits des Atlantiks auch in kultureller Hinsicht eine Paradoxie ersichtlich. Jene Länder, die das Englische zur ‚mother of all tongues‘ (David Crystal, English as a Global Language) erklären, wollen in die Selbstisolation einer Provinz zurückzukehren. Jene Länder, die die Globalisierung unserer Welt gerade mit der angelsächsischen Variante des Kapitalismus verbanden, wollen sich aus einem von ihnen angestossenen, unwiderruflich erscheinenden Prozess zurückziehen. Freilich könnte dies auch zu einer Chance für Frankreich und Deutschland werden, Großbritannien und seiner einstigen Kolonie andere sozio-kulturelle Modelle entgegenzusetzen, das differenzierter auf die eigenen soziale Verhältnisse, einschließlich auf jene in den armen Länder in Übersee reagiert. Dabei gilt es diesen differenzierten Blick auch auf das europäische Projekt zu werfen, ein Blick, der leider seitens unserer Eliten nicht immer hinreichend verstanden wird. Zu rasch gerät auch berechtigte Kritik an den bestehenden Verhältnissen der Europäischen Union in den Verdacht des Euroskeptizismus, der es den Herrschenden letztlich erspart, auf begründete Argumente zu antworten. Doch inzwischen ist ‚Europa‘ kein Zauberwort mehr, mit dem man den Einbruch des ewigen Friedens zelebrieren könnte. Man will sich auch etwas dabei denken, und dies müssen mehr als nur schöne Worte und pathetische Versprechungen sein. Zwar sind Europäische und Amerikanische Union als Projekte keineswegs deckungsgleich, aber demungeachtet greifen die USA doch der in Europa intendierten Entwicklung weit voraus, konstituieren sie doch bereits jetzt schon eine Föderation von Staaten, während sich diese in Europa noch auf dem Weg in diese engverbundene Staatlichkeit befindet. Hatten uns die Befürworter der EU nicht immer gesagt, dass wir mit einer gemeinsamen Staatlichkeit aller Europäer auch die Engstirnigkeit nationaler Interessen, Nationalismus und Rassismus überwinden würden? Wäre ein Herr Trump in letzter Konsequenz nicht auch gerade eine Perspektive, die uns dereinst mit einer Europäischen Union erwarten könnte, zumal wenn wir dann einen Präsidenten hätten, der mit ähnlichen Machtbefugnissen ausgestattet wäre. Gerade in der Politik der Vereinigten Staaten resümieren sich doch genauso jene Allmachtsphantasien, wie sie nur Staaten und Nationen mit unmäßiger Macht für sich in Anspruch nehmen können. Was uns in Europa bisher vor diesem kollektiven Schicksal verschont hat, ist vielleicht gerade die Tatsache, dass nicht ein Präsident regiert, sondern vielmehr achtundzwanzig Repräsentanten. (Kürzlich wurde übrigens gemeldet, dass es Bestrebungen in Kalifornien gibt, sich von der Amerikanischen Union zu lösen und auf eine Eigenstaatlichkeit hinzuarbeiten, vgl. http://www.t-online.de/nachrichten/ausland/usa/id_80205056/calexit-kalifornien-will-sich-von-usa-abspalten-kampagne-laeuft.html, 28.01.2017).

Donnerstag, 19. Januar 2017

2017-01: Zum Neuen Jahr 2017: Die Eliten und ihre Populisten

Mein Blog ist mir immer ein guter Freund gewesen. Aber desgleichen kann ich nicht von mir selbst sagen. In letzter Zeit habe ich ihn sträflicherweise vernachlässigt, nicht zuletzt deshalb, weil mir mit dem Ende meiner beruflichen Tätigkeit an der Hochschule mein Lebenssinn abhandenzukommen drohte, wie er sich für mich seit erfolgreicher Habilitation und zahlreichen guten Vertretungen von Professuren in bestimmten Zielen konkretisierte. In diesen letzten zwanzig Jahren haben auch die Niederlagen und Rückschläge meine Hoffnungen nicht zerstören können. Vielleicht hoffte ich zuletzt nicht mehr auf eine Professur, wohl aber auf eine Dozentur im Mittelbau, mit der ich dann meine Berufsjahre zum Abschluss hätte bringen können. Dass ich jetzt als Habilitierter und Privatdozent im Integrationsunterricht arbeite, macht mich empfindungs- und nahezu sprachlos. Auch bleibt kaum noch Zeit zum Schreiben, geschweige denn zum wissenschaftlichen Arbeiten. Wenn es denn Menschen gegeben haben sollte, die mir Übles wollten, so hätten sie in ihrer Übermacht einiges erreicht. Sie haben mich weitgehend zum Schweigen gebracht, aber eben doch nicht ganz. Ich hoffe, diese vor mir liegenden Jahre so zu überstehen, dass mir danach noch genügend Zeit bleibt, um meine wissenschaftliche Publikationstätigkeit wiederaufzunehmen. Es liegen vor mir hunderte von Büchern, die allein für mein Projekt bestimmt waren. Doch die Zeit, es umzusetzen, ist mir inzwischen abhandengekommen. Zeit hatte ich, selbst als ich eigentlich gehabt haben sollte, eigentlich nicht einmal in meiner Habilitationsphase. Da musste ich darum kämpfen, 1) dass mir vertraglich auch die vollen sechs Jahre zugesichert wurden und 2) dass ich die einmal errungene Zeit auch primär für meine Habilitation nutzen durfte, was schließlich auch meine eigentliche Aufgabe war. Und auch fortan sollte ich niemals die Gelegenheit erhalten, meine wissenschaftliche Arbeit im Rahmen einer festen Stelle fortzusetzen. Dabei spielte es keine Rolle, dass ich inzwischen habilitiert war. Die Anstrengungen der Promotion und Habilitation konnten mir allenfalls dazu verhelfen, das Schreiben als bloßes Steckenpferd und zugleich mit Seriosität fortzusetzen. Wo andere eine sichere Pensio erwarten und dabei doch ihre Publikationstätigkeit womöglich inzwischen längst aufgegeben haben, werde ich Idealist bleiben müssen, nicht aus moralischer Überlegenheit, sondern einzig und allein aus dem Zwang ungünstiger Verhältnisse. Aber diese betreffen nicht nur mich. Und daher will ich auch, wie in meinem Eintrag vom Spätsommer 2016 notiert, auf die augenblickliche Lage eingehen, die im zunehmenden Mißtrauen vieler Menschen gegenüber den politischen und wirtschaftlichen Eliten in der westlichen Welt ein gemeinsames Motiv findet. Dabei tun sich beunruhigende Fragen auf, die allerdings im öffentlichen Diskurs auf wenig Widerhall stoßen. Der Allerweltsbegriff 'Populismus' versammelt scheinbar alle Feinde der demokratischen Ordnung um sich. Aber kaum einer wagt zu sagen, dass Demokratie und Populismus Verwandte sind, wenn auch Verwandte, die sich nicht sonderlich mögen. Aber dies mag schließlich in den besten Familien vorkommen. Denn der Wahlkampf in den USA hat längst gezeigt, dass der Streit zwischen repräsentativer und plebiszitärer Demokratie recht künstlich ist. Natürlich sind Volksabstimmungen und Referenden auch mit der gebotenen Skepsis zu betrachten, da sich komplexe Fragen nicht immer eindeutig beantworten lassen und Stimmungen deren Ergebnis auch verzerren können. Was aber, wenn Wahlkämpfe von bestimmten Bewerbern zu folgenschweren Plebisziten gemacht werden, wie dies einstmals schon zwischen 1930 und 1932 der Fall war und bei allen gebotenen Unterschieden zuletzt auch die Auseinandersetzungen zwischen Demokraten und Republikanern in den USA bestimmen sollte. Nicht umsonst hat man diese mit der vorausgegangenen Volksabstimmung in Großbritannien verglichen, die schließlich den Brexit einleitete. 'Elite' und 'Masse' stehen in einem wechselseitigen Verhältnis zueinander. Im vordemokratischen Zeitalter konstituierte sich diese Elite durch das Blut, das sich wie eine genealogische Linie durch Generationen aristokratischer Familien schlängelte. Mit der Demokratie war die Elite aber nicht mehr gegeben, sondern mußte ihre Legitimität vielmehr in Wahlen begründen. Doch es wäre weit gefehlt, wollte man dieses neue Prinzip mit einer meritokratischen Ordnung gleichsetzen, die in der westlichen Welt von jeher immer eher Ideal denn Realität war. Die Kombination von Interessen und Geld ist letztlich so unschlagbar, dass sie selbst neue Traditionslinien und Erbschaften in Politik, Wirtschaft, Kultur, und so ließe sich hinzufügen, auch in der Wissenschaft hervorbringen. Die Autonomisierung der Sprache im Diskurs trug das ihrige dazu bei, dass sich diese Eliten in Selbstgesprächen verwickeln, zu denen Außenstehende kaum noch Zugang hatten. Gegen diese Elitebildung formiert sich Widerstand, der heute wie damals mit dem Leid der Zukurzgekommenen und Unterprivilegierte spielt. Denn in derartigen Situationen, die häufig nach Pulverdampf riechen, treten Figuren vom Schlage großer und kleiner Agitatoren, Demagogen und Einflüsterer auf. Diesen geht es vornehmlich darum, dieses Elend so auszunutzen, dass sie unbemerkt eine neue Elite bilden können, wenn dies nicht schon vorher getan haben. Besonders in Deutschland ist es zur Mode geworden, jede Entwicklung der neueren Zeit, ja jedes auch nur kleine Symptom, das auf widrige und repressive Verhältnisse deuten könnte, mit dem Nationalsozialismus in Zusammenhang zu bringen. Ich teile diese Mode grundsätzlich nicht, da ich nicht an den Fatalismus einer Geschichte glaube, die dem Gesetz der ewigen Wiederkehr unterliegt. Im Augenblick sehen wir schließlich, dass im sogenannten "Populismus" nicht einfach etwas Altes wiederkehrt, sondern auch Neues einbricht, so etwa in Großbritannien, dessen Demokratie bisher immer wieder als geradezu mustergültige Überbietung des klassischen athenischen Modells aufgefasst wurde, wahrscheinlich auch weil mit diesem der Erfolg des Ordo-Liberalismus gefeiert werden konnte. Entgegen dieser grundsätzlichen Einsicht stelle ich dem Leser am Ende dieses Eintrags ein längeres Zitat aus Ernst Glaesers Roman Der letzte Zivilist (1934) zur Verfügung, in dem die Wirkung einer Wahlkampfrede Hitlers am Ende der Weimarer Politik ausgelotet wird. Ähnlichkeiten zu heutigen Ereignissen liegen dabei auf der Hand, ohne dass deren Akteure eine Gleichsetzung mit Adolf Nazi über sich ergehen lassen müssten. Zunächst aber will ich meinen Beitrag zu einem vorläufigen Abschluß bringen. Eine Elite befindet sich immer dann in einem Kampf mit einer anderen Elite, wenn die bisher geltenden Diskurse ihre Legitimation zu verlieren drohen, wenn ihr Sinnpotenzial erschöpft ist. Gekämpft wird um Deutungsmacht und Geltungshoheit. Sind schon die alten Eliten des Populismus fähig, so müssen die neuen es erst Recht sein, um ihren Diskurs als Protest besonderen Nachdruck zu verleihen und damit zur Macht zu kommen. Meine These ist also, dass die Demokratie ihre Scharlatane selbst hervorbringt. Deren Chancen wachsen mit der Unzufriedenheit derer, die sich als Chancenlose von Demagogen gegen noch schwächere Teile der Gesellschaft ausspielen lassen. Das kennen wir aus der deutschen Geschichte, aber eben nicht mehr nur aus dieser. Hüten wir uns heute vor denen, die sich den Protest auf die Fahne schreiben und dabei doch nur mit unseren Frustrationen spielen. Auszug aus "Ernst Gläser: Der letzte Zivilist" (1934) Bäuerle sitzt in der tobenden Halle. Er hat den Kopf auf den Knauf seines Stockes gestützt. Er sieht nicht nach links, er sieht nicht nach rechts — er sieht auf den Boden. Mit allen Mitteln seines Verstands sucht er sich klarzumachen, was geschieht. Es gelingt ihm nicht. Dieser Mann auf der Bühne braucht nur ein Wort zu sprechen, und schon toben die Leute. Da, jetzt... Ein Brausen geht über die Galerie, es erfasst den Saal, schon ist die Woge über alle Köpfe hinweg. Wer soll da standhalten! Bäuerle hört genau hin. Eine barbarische Stimme. Raffiniert, wie er moduliert. Wie er Suggestivfragen stellt. Wie er die Pausen dehnt und dann die Spannung überrennt. Noch nie hat Bäuerle einen Menschen so sprechen gehört. Das bricht wie ein Gewitter über einen. Der Mann ist... Hahaha... Ha... Heil!... eine böse Naturkraft. Ich werde... Aufhängen! Auf hängen!... Jetzt spricht er plötzlich wie ein Kind. Wie? Deutschland... Vaterland...Volk... Liebe... Da schluchzt eine Frau... ganz laut... hemmungslos... unsere Toten... wofür? wofür? ...welch ein Schrei! ... der Saal ist zum Zerreißen gespannt. Für diesen Staat! Für diese Juden! Für diesen Kapitalismus!! (...) So gewaltig ist das Echo. Aus tausend Kehlen dröhnt die Antwort, brüllt die Verzweiflung vor diesem einen Mann. Da ist es, Stählins Blut, da ist es, Anheggers Blut, er hat es in den Händen, er gießt es über die Köpfe, heillos züngeln die Flammen empor. Bäuerle beißt in den Elfenbeingriff seines Stocks. Er spürt den zuckenden Leib der Massen, fassungslos sitzt er vor dieser ungeheuerlichen Beschwörung. Und plötzlich beginnt es wie Schläge auf den zuckenden Leib zu prasseln. Uns gehört die Macht! Uns gebührt die Macht! Uns! Und sie springen auf, und sie jubeln, und sie werfen die Hände, und sein Wille reißt sie zu sich heran, bis sie nichts mehr sehen, bis sie nichts mehr denken, bis sie sind, wie er sie haben will. Inmitten des Aufruhrs, der Raserei, des Tumults der Begeisterung prüft Bäuerle kalten Auges den Mann. Er sieht seine Bewegungen, dieses Außersichsein der Hände, dieses Toben der Faust, diese herrische Geste des nach unten weisenden Daumens. Und er sieht, wie die Menschen diesen hypnotisierenden Gesten folgen, wie sie sich beugen, sich erheben, wie sie hassen und sich verneigen und wie sie außer sich werden, wenn er ihre Wunden berührt. Das ist es, jetzt begreift es Bäuerle. Hier steht ein Mann, der rücksichtslos auf die Wunden weist. Ja, er ätzt sie noch, er legt sie hemmungslos frei. Wie sie brüllen, wie sie aufspringen und toben. Was sagt er da? Wir sind arm. Wir haben nichts mehr. Du und du und das ganze ehrliche deutsche Volk... ja, ja, ja... schreien sie zurück. Das Wundfieber hat sie gepackt. Alles, was schmerzt, hier können sie es herausschreien, zu Hause nicht, im Geschäft nicht, vor den Behörden nicht, aber vor diesem Mann! Scharfäugig sitzt der Amerikaner auf dem Stuhl. Er spürt das Grausen, das aufsteigt. Die Insassen eines Millionenlazaretts sind aufgesprungen, sie zeigen ihre Schwären, sie brauchen nicht mehr zu lächeln wie bei den Visiten der amtlichen Ärzte. Hier steht der neue. Schonungslos deutet er auf das Blut und den Eiter. Gebt mir das Messer, ruft er, gebt mir die Macht! Die Menge ist aufgesprungen. Ein Heil aus tausend Kehlen dröhnt wider die Kuppel. Wortlos geht der Mann von der Bühne nach unten. Sie bilden Spalier. Sie reißen sich an den Kleidern, sie springen auf die Stühle, fliegende Haare, fliegende Hände, ein Kreißsaal von Männern und Frauen.