Ein Versuch, mir meine Trauer, Resignation und Wut von der Seele zu schreiben, um nicht daran zu zerbrechen

Montag, 27. August 2018

2018-04 Romanisten intra et extra muros








Wer in seinem Leben ein gewisses Alter erreicht hat, dürfte eine ungemein große Menge von Zeitgenossen kennengelernt haben. Anlässlich meiner Dissertation musste ich seinerzeit zahlreiche portugiesische Theaterstücke lesen, von denen mir besonders eines in guter Erinnerung geblieben ist. In diesem existenzialistischen Mehrakter mit dem bezeichnenden Titel Condenados à vida (1963; zu Deutsch vielleicht Zum Leben verurteilt) von Luís Francisco Rebello geht es um die Frage, wie Menschen ins Leben finden, welchen Weg sie einschlagen, wohin sie gehen wollen und wo sie schließlich ankommen. Das Bild, das im Stück gewählt wird, ist ein großer Bahnhof mit ein- und ausfahrenden Züge. Menschen, so glaube ich mich zu erinnern, blicken einander an, wechseln beim Umsteigen ein paar Worte miteinander, um dann ihre Reise fortzusetzen. Ich fand dieses Bild damals schon ansprechend, da es tatsächlich unsere Lebenswirklichkeit wiedergibt. Wir treffen Menschen, lernen sie vielleicht ein wenig oder auch besser kennen (und vergessen dabei zuweilen auch ihre Namen), um sie alsbald wieder aus den Augen zu verlieren, so als hätten sie niemals für uns existiert, wie auf einer Durchreise, wie wir sie im Übergang von einer Phase unseres Lebens zu einer anderen erleben, oder manchmal auch von einem Drama zum anderen. Alles erscheint oftmals so flüchtig und konturlos, und doch bleiben selbst in diesen flüchtigen Begegnungen noch Erinnerungen an Menschen, die einmal unseren Alltag kreuzten.
So unüberschaubar die Anzahl der Menschen ist, die einmal Teil unserer Gespräche, bisweilen sogar unseres Handelns wurden, so sehr verengt sich doch die Sicht, wenn wir auf unser Studium zurückblicken. Die Kommilitonen, die sich wie ich der Romanistik zuwandten, lassen sich zwar nicht an einer Hand ablesen. Und doch bleibt ihre Gruppe übersichtlich genug, um die wichtigsten unter ihnen noch mit Namen zu kennen. Als ich meine Dissertation abschloss, nahm ich zwar nicht an, dass ich ein Orchideenfach studiert hatte, aber eben auch nicht ein solches Massensortiment wie Jura, Betriebswirtschaft oder Ingenieurwesen. Immerhin werden auch an den Romanischen Seminaren und Instituten Lehrer für den Französisch-, Spanisch. Und Italienischunterricht ausgebildet, die dazu bestimmt sind, auf die inzwischen unterbesetzten Stellen an den Schulen nachzurücken.
In einem größeren Kreis der Atlantikbrücke, zu der ich vor zwölf Jahren einmal eingeladen worden war, musste ich allerdings erkennen, dass ich mit meiner Annahme im Irrtum war. Zahlreiche prominente, aber auch weniger bekannte Leute gaben damals zu erkennen, dass sie französische Literatur- oder spanische Sprachwissenschaft studiert hatten. Sie schienen alle ihren Beruf oder ihre Berufung gefunden zu haben. Sie machten mir deshalb seinerzeit ausnahmslos Mut, meinen Traum von einer Lehr- und Forschungstätigkeit in diesem schönen Fach nicht aufzugeben und vor allem optimistisch in die Zukunft zu blicken. Natürlich bin ich ihren Rat, so gut ich konnte, gefolgt. Es erübrigt sich, heute über diese Naivität zu lächeln oder darauf gar mit Zynismus zu reagieren.
Da ich heute kaum noch Gelegenheit habe, mich mit Kollegen über die wohl nicht ganz unproblematische Situation unserer Disziplin auszutauschen, dachte ich, nun ganz und gar extra muros zu sein. Was hatte der Deutsch- und Integrationsunterricht für Migranten und Flüchtlinge schon mit Absolventen oder Studienabbrecher der Romanistik zu tun? Doch auch jetzt muss ich umso mehr erkennen, dass unzählige Kollegen auch aus unserem Fach kommen. Angesichts des Umstands, dass sich so viele helle Köpfe unter ihnen befinden, kann ich mich heute fast über den überstürzten Ausgang meiner Universitätslaufbahn hinwegtrösten. Allerdings nur fast, denn auf habilitierte Kollegen bin ich bis jetzt jedenfalls nicht gestoßen. Nichtsdestotrotz überrascht mich die große Zahl von guten Leuten, die unserem Fach den Rücken zugewandt haben und sich nolens volens umorientieren mussten. Es ist zumindest schön, sich nicht als Einzelgänger außerhalb der schützenden Mauern der Hochschule zu befinden.
Was aber geschieht mit jenen glücklichen oder vielleicht auch unglücklichen Kollegen, die die Chance haben, ihren Beruf intra muros ausüben zu können. Von nicht wenigen weiß ich, dass sie mit Erleichterung in den Ruhestand gegangen sind, weil sie die katastrophalen Auswirkungen des Bolognaprozesses für dieses interdisziplinär-komparatistischen Faches nicht mehr ertragen konnten, weil sie um die Freiheit ihrer Lehre fürchteten und nicht zuletzt, weil sie daran verzweifelten, dass ihre Professuren nach ihrer Emeritierung abgewickelt werden. Noch immer soll es Menschen geben, die sich auch ein Leben nach ihrem eigenen Ableben vorstellen wollen und viel dafür tun, dass nach ihnen eben nicht die Sintflut kommt. Andere wiederum haben genug von einer an sich hochqualifizierten Lehre, die den vielfach unvorbereiteten Studenten nicht mehr entsprechen mag. Und daran haben diese nur einen maßvollen Anteil. Was sollen sie denn tun, wenn hinter ihnen kulturelle Traditionen zusammengebrochen sind, auf die sie selbst längst nicht mehr bauen können? Andere Kollegen mögen vielleicht erkennen, dass sie nicht unbedingt den richtigen Beruf gewählt haben, oder besser gesagt, dass man sie nicht auf die richtige Stelle gesetzt hat. So vertraute mir ein Kollege unlängst an, dass er wohl als Bibliothekar am richtigeren Platz gewesen wäre.
Doch was soll man tun, und damit kehren wir zu jenem Bild zurück, mit dem wir diesen Blog eingeführt haben. Man begegnet sich auf einem imaginären Bahnhof des Lebens. Üblicherweise nimmt man den Zug, von dem man glaubt, dass er am angestrebten Ziel ankommen mag. Nicht alle bekommen aber den Fahrschein, den sie sich so gewünscht haben. Die einen treffen genau die richtigen Menschen, von denen sie nach vorne geschoben werden, die anderen verfehlen eine solche Begegnung, vielleicht weil ihnen die Lektüre immer wichtiger war als Zufallsbekanntschaften, oder um im Jargon zu bleiben, als Seilschaften, die im stickigen akademischen Milieu, gleichgültig ob unter Herren- oder unter Frauenherrschaft, schon immer so wichtig waren. Wieder andere, aber nur wenige, sind hingegen so stark, eigensinnig und überzeugend, dass sie weitgehend ohne Protektion zum Ziel kamen, wohl weil sie An- und Abfahrtszeiten stets im Kopf hatten. Die Angehörigen dieser Gruppe habe ich immer am meisten bewundert.

Als habilitierter Romanist und Integrationslehrer habe ich mich längst von jenen Regionen entfernt, in denen ich meinem Leben ein glücklicheres Ziel zu geben hoffte. Der Zug fährt immer weiter und bringt mich an Ufer, die für mich nicht unbedingt neu, in jedem Fall aber ungewohnt und anstrengend sind. Meine Ziele werde ich nicht mehr erreichen, wohl aber die Gewissheit, dass mein Zug größere Distanzen zurücklegen musste als jene, die ihre Fahrgäste aufgrund eines Rufs direkt zum Ziel brachten. Ich musste häufig umsteigen, musste bei einer Vertretung immer gewahr bleiben, dass es vielleicht die letzte sein würde, bis es schließlich tatsächlich auch die letzte war. Und doch obwohl ich in eine Richtung fahre, in die ich niemals wollte, treffe ich doch Gesichter, die mir nicht fremd sind und mich an meine ursprünglichen Ziele erinnern.